Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
Stimme wurde lauter.
»Meine auch.«
»Das könnt Ihr nicht machen, Cason.«
»Ich tue es trotzdem.«
»Aber warum?«
»Wir wenden verschiedene Methoden an, Ihr und ich. Ich habe Eure ausprobiert, und nun versuche ich es mit meiner.«
Valnettis Stimme nahm einen einschmeichelnden Klang an. »Wir können uns gewiss auf einen Kompromiss einigen.«
»Das glaube ich nicht.« Mit steinerner Miene rauschte Annibale an Valnetti vorbei, doch Valnettis Arm schoss vor und hielt ihn zurück.
»Meine Familie stammt aus Genua, müsst Ihr wissen.«
»So?«
»Dort gibt es eine Legende.« Valnetti stolperte, um mit Annibale Schritt zu halten, und sprach schnell und laut. »Ein Hirte namens Nikolaus, der fast noch ein Kind war, hatte eine Vision von Gott und führte Tausende von Kindern über die Alpen, um sich auf einen Kreuzzug gegen die ungläubigen Muselmanen zu begeben.« Er rannte, um den jüngeren Mann zu überholen. »Sie gelangten schließlich nach Genua, all diese verlorenen Kinder. Nikolaus glaubte, das Meer würde sich teilen, und die kleinen Kreuzfahrer setzten sich alle an das Ufer, um darauf zu warten.« Er hielt Annibale mit ausgestrecktem Arm auf und bekam den Umhang des anderen zu packen. Sein Schnabel prallte gegen den von Annibale. »Nikolaus war kein Visionär, Cason, sondern nur ein dummes Kind.«
Annibale stieß ihn weg und ging schweigend weiter. Valnetti wurde von dem stetigen Strom mitgeschwemmt. Einige der Menschen rempelten ihn im Vorbeigehen an. Er versuchte auf den einen oder anderen einzureden, erhielt aber keine Antwort. So blieb ihm nichts anderes übrig, als hinter Annibale her zu trotten, bis die Gruppe die Fondamenta Nuove erreichte.
Als Annibale die Familien in die wartenden Boote dirigierte, konnte Valnetti nur hilflos zusehen. Während der jüngere Arzt in das größte Boot sprang, feuerte er seinen letzten Schuss ab.
»Ich lasse Euch aus dem Consiglio Medico ausschließen«, warnte er.
Annibale zuckte die Achseln. »Es ist ein Dienst an der Menschheit.«
Valnetti schnaubte in die lange Nase seiner Maske. »Seit wann?«
Annibale musste nicht überlegen. Er schob einen Fuß vor und stieß das Boot vom Dock ab.
»Seit jetzt«, sagte er.
An der Spitze der kleinen Flotte befand sich Annibale, der wieder als Galionsfigur fungierte. Er hatte die schwersten Fälle als Vorreiter bei sich im Boot. Als sie das Lazzaretto Nuovo erreichten, sah er, das Bocca die Befehle ausgeführt hatte, die er ihm im Lauf der vergangenen Woche erteilt hatte. Das rote Kreuz war vom Bootshaus entfernt worden, es würde hier keine unheilvollen Kennzeichen mehr geben. Am Pier war ein Kohlenbecken aufgestellt worden. Brannte es, hatten die Boote hier anzulegen, war es dunkel, durften sie nicht näher kommen. Bocca hatte auf Annibales Anordnung hin an der Torschwelle eine flache Grube ausgehoben und mit Pottasche gefüllt, damit jeder Besucher beim Betreten und Verlassen des Geländes seine Füße reinigen konnte.
Annibale wies die anderen Boote an, zu warten, und führte seine kleine Gruppe Schwerkranker durch das Tor. Einige wurden von den gesünderen Patienten auf Bahren getragen, einige konnten noch aus eigener Kraft laufen, und einige stolperten an Krücken oder stützten sich auf ihre Kameraden. Annibale brachte sie in das Tezon, wies ihnen ihre Betten zu und gab jedem Wasser. Dann wurden die großen Türen geschlossen.
Er kehrte zu den Booten zurück, holte nacheinander die Familien, brachte sie in den Armenhäusern unter und schärfte ihnen ein, keinesfalls das Tezon zu betreten, auch wenn sie sich noch so sehr danach sehnten, ihre Angehörigen zu besuchen. Zwei Häuser blieben unbewohnt: die kleine Ruine neben der Kirche und das Eckhaus am torresin, das er selbst beziehen wollte. Er überließ die Kinder ihrem Spiel unter den Maulbeerbäumen und machte sich auf den Weg zum Tezon.
Aber erst warf er einen Blick in die kleine Kirche. Darin sah er eine kniende Gestalt. Annibale zog sich zurück, weil er sie nicht beim Beten stören wollte, doch die Badessa drehte sich um und erhob sich. »Kommt herein«, sagte sie.
Er trat etwas zaghaft vor und nahm den breitkrempigen Hut ab. Die Schnabelmaske behielt er an. »Verzeiht die Maske«, sagte er. »Sie dient eher Eurer als meiner Sicherheit.« Aber er verneigte sich linkisch, um es nicht an Respekt fehlen zu lassen – ihr gegenüber, nicht gegenüber dem Altar. »Ich möchte Euch nicht stören.«
Sie spreizte die schwieligen Hände. »Ich sage nichts,
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