Die Heilerin
Lehrjungen auf die Walz schicken. Seine Gesellenjahre würde er woanders ableisten müssen. Der Abschied fiel keinem leicht, Tränen flossen.
»Daniel ist ein guter Junge«, sagte Gretje abends, als sie vor dem Kamin in der Stube saßen. »Ich hoffe, ihm wird es gut ergehen.«
»Mach dir keine Sorgen, Vrouw.« Isaak streckte die Füße aus. »Es wird ihm gut tun, auch andere Lehrmeister zu erleben, andere Handhabungen kennenzulernen. Und sollte alles schiefgehen, kann er zurückkehren, das habe ich ihm angeboten.«
»Hast du? Gut.« Beruhigt nahm sich Gretje Flickwäsche aus dem Korb.
»Was ist mit Abraham?«, fragte Margaretha leise. Sie saß, wie so oft, auf dem Boden und spielte mit dem Hund.
»Er ist in Duisburg.« Dirck kam mit einem Krug Würzwein in die Stube.
»Er ist oft in Duisburg.« Margaretha reichte ihm ihren Becher.
»Ja«, sagte Isaak und nahm die Pfeife hervor. »Zu oft.«
»Ach, Isaak, der Junge hadert mit seinem Leben, seiner Berufung, seinem Glauben.« Gretje seufzte und ließ sich von Dirck einschenken.
»Er hadert seit nunmehr fast zwei Jahren. Irgendwann muss es auch mal gut sein. Hermann übernimmt fast alle seine Arbeiten, deckt ihn. Er denkt wohl, ich werde alt und bemerke es nicht.« Isaak lachte rau auf. »Aber er täuscht sich. Ich sehe sehr wohl, was in meiner Familie vor sich geht. Und ich weiß genau, dass Abraham seinen Aufgaben nicht gerecht wird.«
»Das wissen wir wohl alle«, sagte Dirck und zog sich einen Sessel vor den Kamin. »Was willst du tun?«
»Ich werde mit ihm reden. Wenn er sein Erbe ausgezahlt haben will, um sich seinen religiösen Studien zu widmen, dann soll er das tun. Dann übernimmt Hermann seine Stelle. So geht es auf jeden Fall nicht weiter.«
»Nun seid doch nicht so hart mit dem Jungen«, versuchte Gretje zu vermitteln. »Wenn ihr ihm den Halt hier zuhausenehmt, wird er ganz abgleiten. Das darf nicht sein. Dann verliert er sich.«
»Möglich, Vrouw. Aber es darf auch nicht sein, dass seine Brüder unter seinen Spinnereien leiden.«
Margaretha kicherte. »Wir sind Weber, Vater, keine Spinner.«
Für einen Augenblick sah Isaak sie verblüfft an, dann lachte er auf. »Ich brauche ein Pint Branntwein.«
Margaretha sprang auf. In der Küche stieß sie beinahe mit Hermann zusammen, der durch die Hoftür hereinstürmte. »Wo ist Mutter?«, rief er atemlos. »Esther geht es schlecht.«
Margaretha wies zur Stube.
»Mutter, komm schnell. Bitte, komm«, rief Hermann verzweifelt.
»Was ist mit Esther?« Gretje stand auf und folgte ihm in die Küche. Im Hof heulte der erste Herbststurm, fing sich unter den Dachtraufen, sang ein schauerliches Lied.
»Sie ist aufgebracht, verzweifelt, todunglücklich. Sie weint schon seit Stunden, prophezeit ihren Tod. Ich kann sie gar nicht mehr beruhigen.« Hermann strich sich durch die Haare. Er war schon immer hager gewesen, doch nun war er dürr. Die Erschöpfung war ihm anzusehen. »Sie hat furchtbare Angst.«
»Aber die Wehen haben noch nicht eingesetzt? Auch keine Blutung?« Gretje verbarg ihre Anspannung, doch Margaretha sah den Nerv unter ihrem Auge zucken. »Es wäre zu früh für das Kind.«
»Nein, nein. Sie leidet nur, hat Angst. Ansonsten geht es ihr gut.«
»Nun gut.« Gretje seufzte. »Margret, hol mir Frauenmantelsamen und Johanniskraut aus der Kammer. Und ein wenig Veilchenwurzel. Zerreib alles im Mörser, aber pass auf mit der Veilchenwurzel, nur wenig davon. Zuviel löst Durchfall aus. Mach aus den Zutaten einen Aufguss und lass ihn ein wenig ziehen, dann seih ihn gründlich ab und bring ihn nach nebenan.« Entschlossen ging sie zur Tür zum Hof. Kurz vor der Türdrehte sie sich nochmal um. »Hol dir und deinem Vater einen Branntwein. Und beruhige dich. Um alles andere kümmere ich mich.«
Die Aufgüsse und Tinkturen halfen Esther, sie wurde ruhiger. Der Bauch wuchs, das Kind bewegte sich ordentlich, doch die Angst der jungen Frau wurde nicht weniger. Es wurde Spätherbst, Winter. Und wieder fiel der Schnee, das Eis wuchs auf dem Rhein. Es wurde spät hell, früh dunkel, dichte Wolken hingen über dem Niederrhein. Esther wurde zu einem Schatten der fröhlichen Frau von einst. Unter ihren Augen lagen dicke Ringe, der Bauch stach hervor, aber alles Fleisch an Armen und Beinen hatte sie verloren. Nur selten verließ sie das Schlafgemach des Ehepaares. Gretje kochte schmackhafte Suppen, bereitete Gänseleber zu, Rinderbraten. Esther aß kaum. Apathisch starrte sie aus dem Fenster auf die Gasse vor
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