Die Heilerin
Seele fror. Ich fragte mich nach dem Sinn des Lebens. Meine Mutter, Gott habe sie selig, war an der Pest gestorben, wie viele andere auch. Und ich fragte nach dem Warum und Wieso. Ich fragte nach dem Sinn des Lebens. Die Kirche predigte mit grausamen Bildern, predigte von der Hölle und der Verdammnis. Die Erbsünde lastete schwer auf mir. Als Kind war ich zutiefst unglücklich und habe Gott angefleht, mir einen Weg aufzuzeigen. Doch in der Kirche antwortete er nicht, denn in der Kirche gab es keinen Moment der Stille. Es gab die Zeremonie und den festen Ablauf, aber es gab keinen Moment für meine Fragen und Gedanken. Vorgefertigte Fragen werden durch festgemeißelte Antworten erwidert. Für den eigenen Glauben und die Zwiesprache mit Gott bleiben weder Platz noch Zeit. Gebete werden gesprochen, Danksagungen. Die Liturgie rauf und runter.« Er hielt kurz inne, trank einen Schluck Wein. »Aber meine Fragen hat das nicht beantwortet. Lieber wäre ich ein Tier auf dem Feld gewesen, eine einfache Kreatur, ohne Fragen und ohne den Drang nach Antworten. Ich wäre gerne gestorben, wäre gerne in das Himmelreich eingekehrt. Noch lieber hätte ich alles weltliche Hab und Gut verschenkt, die Welt gegeben, wenn ich denn Antworten bekommen hätte. Doch so bekam ich sie nicht. Und ich litt.«
Er senkte den Kopf und faltete die Hände. Andächtig folgten viele seinem Beispiel.
»Doch alles Leiden, alle Schreie und mein Weinen brachten mich nicht weiter. Ich sah die Kinder in meinem Alter, und es erstaunte, ja, erschreckte mich, wie unbedarft, wie frei und fröhlich sie lebten. Ohne Angst und ohne Fragen. Sie beschäftigte die Frage nach Gott nicht. Nicht nach Schuld und Sühne, nicht nach dem rechten Glauben. Sie lebten, trieben Schabernackund machten Späße. Sie gingen zur Messe, hörten die Worte der Pfaffen und hörten sie doch nicht. Die Hölle schreckte sie nicht.«
Crisp sah auf, blickte sich um. »Die Hölle schreckte sie nicht, egal, was sie taten.« Er schwieg für einen Moment. »Und irgendwann begriff ich, dass diese Hölle auch niemanden schreckt, der reinen Glaubens ist. Diese Kinder waren es sicherlich nicht, aber sie hatten die Möglichkeit, es zu werden. Gott urteilt nicht so. Nicht so wie es die Kirche tut. Gott möchte keine Ablasszahlungen, er will, dass wir im Glauben zu ihm leben und dies wahrhaftig.«
Noch eine Weile fuhr Crisp fort. Er fesselte die Anwesenden mit seinen schlichten Worten mehr, als es Prunk und Pracht hätten tun können.
An diesem Abend ging Margaretha voller fremder und neuer Gedanken ins Bett. Rebecca folgte ihr. Das Gesicht des Mädchens glühte. In der Küche hatte sie viel Tratsch und Klatsch erfahren, doch an diesem Abend wollte Margaretha nichts davon hören. Sie war ganz in Gedanken. War ihr Glaube richtig? War er wahrhaft und ehrlich? Machte sie es sich nicht zu einfach, indem sie dem Ablauf der Gottesdienste bereitwillig folgte? Sie drehte sich mit dem Rücken zur Magd, murmelte ein »Gute Nacht« und hing ihren Grübeleien nach, ohne auf Rebeccas Wortschwall einzugehen.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte die Magd angesäuert. »Hat dich etwa der Geist des Glaubens erfasst?«
»Und wenn es so wäre?«
»Dann hilft er dir morgen in der Frühe sicher auch, um das Feuer im Herd anzufachen, denn irgendetwas verstopft den Kamin.« Rebecca schnaubte und drehte sich um.
Der Kater versuchte, sich zwischen die beiden Mädchen zu drängen, doch das Bett war zu schmal. Beleidigt maunzend zog er von dannen.
Crisp blieb drei Tage, Tage, in denen er mit vielen Brüdern der Gemeinde sprach, Andacht hielt, predigte. Seine Art fesseltedie Zuhörer, jedoch nicht alle waren begeistert von ihm und seiner Weise zu glauben. Hermann und sein Freund Heinrich waren besonders angetan von Crisp. Sie brachten ihn zurück nach Duisburg, wollten die Fahrt für weitere Gespräche nutzen.
Seufzend setzte sich Isaak abends in die Stube und zündete sich eine Pfeife an. Sie hatten die zusätzlichen Tische, Stühle und Bänke wieder nach drüben gebracht, aufgeräumt und geordnet. Trotzdem war noch nicht alles wieder an seinem Platz.
»So eine Aufregung und so viel Arbeit.« Isaak streckte die Beine aus.
»Die meiste Arbeit hatten doch wohl wir Frauen«, sagte Gretje und lachte verschmitzt.
»Das ist wohl wahr, Vrouw, und ihr habt Großartiges geleistet. Ich bin sehr stolz auf euch.« Wieder seufzte er auf.
Nachdenklich sah Gretje ihn an. »Geht es dir nicht gut, Isaak?«
»Es war aufregend,
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