Die Heilerin
Dein Kind. Sie braucht dich! Sie braucht dich jetzt. Nun nimm sie in den Arm.« Hart drehte Gretje ihre Schwiegertochter zu sich. »Dieses Kind braucht dich. Es braucht dich, um zu überleben, und du wirst dich umdie Kleine kümmern! Sofort! Deine Tochter ist ein Geschenk Gottes an dich und deinen Mann.«
Selten hatte Margaretha ihre Mutter in so einem harten Tonfall sprechen hören, erschrocken wich sie zurück, trat dann wieder vor, als Gretje sie an das Bett winkte.
»Ich zeige dir, wie du deine Tochter anlegst. Es ist ganz einfach. Sie braucht diese erste Milch, das ist wichtig.« Gretje klang ruhiger, aber dennoch ernst und bestimmend. Sie nahm Margaretha das Kind aus dem Arm und legte es der Mutter an die Brust.
Margaretha packte die Wäsche zusammen und verließ den Raum. Tränen standen ihr in den Augen, schon jetzt liebte sie dieses kleine Kind, das gerade erst seinen ersten Atemzug getan hatte.
Gretje tat alles, was in ihrer Macht stand, doch auch die Aufgüsse, Tinkturen, die Umschläge und Kräuter halfen nichts. Catharina hatte weder Milch noch Liebe für das Kind. Schnell wurde eine Amme besorgt, eine junge Mutter, deren Kind verstorben war. Sie kam aus einem der Höfe am Rande der Stadt. Liebe fand die kleine Mirjam bei Gretje und Margaretha.
1682 war ein bitteres Jahr. Der Frühling war trocken, der Sommer heiß und der Herbst feucht. Die Ernte fiel schlecht aus. Nach dem Ende des Krieges hatten sich die Grenzen nach Frankreich und Spanien geöffnet, so dass den Krefelder Webern die Aufträge fehlten. Neid, Hass und Willkür breiteten sich in der einst so toleranten Stadt aus. Immer wieder wurden die Familien der Quäker bedroht. Der Rat der Ältesten der Mennoniten sah die Quäker als Gefahr für die Sicherheit der Gemeinde, und so traf sich die Gemeinschaft der Freunde nicht mehr bei Selbachs, sondern bei den op den Graeffs zur Andacht.
Hermann und Abraham befürworteten diese Regelung, doch sie brachte Arbeit und Unruhe in die Haushalte der Familie.Jeden Samstag wurde die Stube ausgeräumt, Bänke und Stühle wurden aufgestellt, es wurde Essen gekocht und für Getränke gesorgt. Etwa zwanzig Familien trafen sich regelmäßig zur Andacht. Nach der stillen Zusammenkunft, in der jeder versuchte, sein Gespräch mit Gott stumm zu führen, wurde diskutiert. Die Situation in der Stadt stimmte alle nachdenklich.
»Lange kann das so nicht mehr gut gehen«, sagte Abraham ernst. »Die Lutheraner werden immer bitterer in ihren Vorwürfen. Meiner Frau wollte der Bauer neulich keine Milch verkaufen.«
Margaretha sah zu Esther, die beiden tauschten einen wissenden Blick. Dass Catharina keine Milch verkauft worden war, lag nur bedingt an ihrem Glauben. Catharina war hart gegen jeden, auch gegen sich selbst. Der Umgang mit ihr fiel allen zunehmend schwerer. Sie war aufbrausend, wurde schnell verletzend und ausfällig. Abraham sah über ihre Fehler hinweg, liebte seine Frau abgöttisch und nahm keine Kritik an.
»Wir sind auf die Bauern angewiesen, Bruder Abraham. Wenn das so weitergeht, bekommen wir ernste Schwierigkeiten«, sagte Johannes Bleikers. »Unsere Brüder, die dem Glauben von Menno Simons anhängen, haben diese Plagen nicht. Nicht in diesem Umfang. Manchmal überlege ich, ob es das wert ist.« Er senkte den Kopf.
»Du zweifelst an deinem Glauben, Bruder?« Abraham stand auf. »Du zweifelst wirklich an deinem Glauben? Hast du nicht Mijnheer Crisp gehört? Seine Worte in dich aufgenommen? Hast du nicht auch gesagt, dass diese Art zu glauben rein, offen und ehrlich ist?«
»Das habe ich. Fürwahr, das habe ich, Bruder Abraham. Aber ich habe auch eine Familie, die über den Winter kommen will und muss. Ich habe Frau und Kinder.« Bleikers schluckte. »Der Winter steht uns bevor. Ich bin es meiner Familie schuldig, sie zu ernähren. So wie du. Macht dir das keine Sorgen?«
»Wir machen uns alle Sorgen, Bruder Johannes. Auch unsere Familie. Aber unser Glaube ist stark und fest. Er trägt uns in den schwierigen Zeiten«, sagte Hermann beschwichtigend.
»In den schwierigen Zeiten?« Elisabeth Kürdis stand auf. »In den schwierigen Zeiten? Was bedeutet das für dich, Bruder? Hast du schon mal Hunger erlebt? Einen Winter, in dem die Kinder weinen vor Kälte und Hunger? Mach dir doch nichts vor. Deine Familie hat Bürgerrechte in der Stadt. Ihr seid wohlhabend. Keiner von euch hat jemals wirklich Hunger gelitten. Meine Familie schon.« Sie blickte sich um, und etliche andere nickten. »Zu glauben
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