Die Heilerin
Mal hier am Niederrhein. Ich suche die Familie op den Graeff. Ist sie Euch bekannt? Wisst Ihr, wo ich sie finde?«
Verwirrt trat Margaretha einen Schritt zurück. »Wen sucht Ihr?«, fragte sie tonlos.
»Die Familie op den Graeff. Sie haben mich eingeladen.«
Obwohl sie sich über viele Dinge unterhalten hatten, hatten sie sich einander nicht vorgestellt. Plötzlich wurde Margaretha klar, wer vor ihr stand.
»Ihr seid Mijnheer Pastorius?« Sie hielt den Atem an. Abraham hatte davon gesprochen, dass er mit dem Advokaten korrespondierte, dass er ihn sogar zu sich eingeladen hatte, mehr aber nicht.
Nun fiel ihr ein, dass Catharina in der letzten Woche das Gästezimmer hergerichtet hatte. Margaretha dachte, dass ihre Schwägerin mit dem Frühjahrsputz angefangen hätte, denn Gäste hatten sie kaum.
»Franz Daniel Pastorius.« Er lächelte und deutete eine Verbeugung an. »Ich habe mich gar nicht vorgestellt, verzeiht.«
Im ersten Augenblick wusste Margaretha nicht, was sie sagen sollte. Kalte und warme Strömungen schienen sie zu durchfließen. Sie hatte gehofft, dass der Name dieses Mannes eine leere Hülle bleiben würde, ein Geist, der nie auftauchte. Aber nun war er da und schien so warmherzig, nett und gebildet zu sein. In der Tiefe ihres Herzen wusste Margaretha schon längst, dass die Familie die Stadt verlassen musste, hier hatten sie auf Dauer keine Zukunft mehr. Doch nun wurde das Ende greifbar. Sie atmete tief ein, suchte nach Worten, fand jedoch keine.
Samuel rührte sich. Er hob den Kopf und sah seine Tante an. »Hunger«, murmelte er leise.
»Ja, Hartje, wir gehen nach Hause.« Margaretha schluckte. »Ich weiß, wo die Familie wohnt«, sagte sie, ohne Pastorius anzusehen. »Es liegt auf dem Weg. Folgt mir.«
»Oh, Ihr kennt die Familie. Mögt Ihr mir von ihnen erzählen? Schon eine Weile schreibe ich mit einem der Mijnheer op den Graeff.«
»Abraham op den Graeff ist unser Nachbar.« Margaretha schnaufte. Sie hatte nicht gelogen.
Die unbeschwerte Stimmung, die auf dem Weg zur Stadt zwischen den beiden geherrscht hatte, war verflogen. Auf den Straßen war einiges an Verkehr. Das gute Wetter belebte die Geschäfte. Doch bald würden die Tore geschlossen werden, und die Bauern, die die ersten Erträge in die Stadt gebracht hatten, machten sich auf den Heimweg. An der Kirche hielten sie inne, ein Trupp Zimmermänner kam aus der Neuen Stadt und ging in Richtung »Schiffchen«. Die Männer hatten seit Morgengrauen gearbeitet, waren hungrig und verschwitzt. Jan Scheuten war einer von ihnen. Er blieb stehen, sein Blick traf den Margarethas. Für einen Moment verlor ihr Herz den Takt, und ihr Atem stockte. Kurz erschien es ihr so, als wolle er auf sie zugehen, endlich wieder mit ihr sprechen. Sie wünschte es sich, wünschte es sich so sehr, dass ihr flau wurde. Jan, dachte sie, Jan. Wo ist unsere Freundschaft hin? Wo unsere Liebe?
Pastorius deutete ihre Unsicherheit falsch. Er fasste sie am Ellenbogen, rückte dicht zu ihr. »Nur keine Bange, Mevrouw. Sie werden Euch nichts tun, ich bin ja da. Zeigt mir den Weg, den wir gehen müssen.«
Überrascht sah Margaretha ihn an, dann wandte sie sich wieder Jan zu. Doch er hatte sich umgedreht, folgte seinen Freunden. Einmal noch schaute er über die Schulter zu ihr. Sein Blick war kalt und abweisend. Verzweifelt senkte Margaretha den Kopf. Ganz sicher hatte er die Situation falsch ausgelegt. Sie kannte Pastorius doch gar nicht. Für einen Moment war sie versucht, hinter Jan herzulaufen, aber Samuel jammerte leise.
»Wir müssen da lang«, sagte sie beklommen und zeigte dem Advokaten den Weg. Vor der Tür von Abraham und Catharinas Haus blieb sie zögernd stehen. Niemand benutzte diesen Eingang. Sie wusste noch nicht mal, ob man das Klopfen hören würde, solange die Webstühle klapperten.
»Hier wohnt Abraham op den Graeff.«
»Ich danke Euch sehr.« Pastorius erhob die Hand und klopfte an die Tür.
Margaretha ging drei Schritte weiter. »Und hier wohnen wir.« Sie schloss die Tür auf. »Mein Name ist Margaretha op den Graeff, ich bin Abrahams Schwester. Kommt mit mir.« Sie ging hinein, ohne zu warten. In der Diele setzte sie Samuel ab. »Zieh die Schuhe aus, kleiner Mann. Es war ein langer Tag. Bestimmt hat Grootmoedertje eine Leckerei für dich in der Küche.«
»Gottegot.« Pastorius war ihr gefolgt. »Ihr seid eine op den Graeff?«
»Ja.«
»Das hätte ich nicht … ich bin überrascht.«
»Warum?« Margaretha hockte sich hin, schnürte ihre
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