Die Heilerin
Manieren. Ich mag meine Tochter gar nicht mehr hierher bringen!«
»Dann lass es doch!«, erwiderte Esther ungehalten. »Es zwingt dich niemand dazu, hierher zu kommen. Ihr habt eine eigene Hütte mit einem Kamin. Ihr habt Feuerholz, und soweit ich weiß, hast du auch Töpfe und Pfannen. Du kannst für euch kochen, du kannst deinen Mann und dein Kind bei euch versorgen, wenn es dir hier nicht passt.« Esthers Stimme wurde immer lauter.
»Ach, so ist das? Ich bin hier nicht willkommen? Und meine Familie auch nicht? Ihr gebt Wilden den Vorzug? Dann kann ich ja auch gehen.«
Margaretha holte tief Luft und öffnete die Tür der Hütte. »Guten Morgen«, sagte sie so freundlich, wie sie es vermochte.
»Guten Morgen, Margret.« Esther sah sie an, verdrehte dann die Augen.
»Margret, untersuch den Wilden!«, verlangte Catharina. »Wenn seine Wunde gut versorgt ist, kann er ja gehen.«
»Gehen wird er eine ganze Weile nicht mehr können, Catharina. Aber natürlich schaue ich mir die Wunde gleich an. Doch erst würde ich gerne etwas essen.«
»Dann sieh zu, dass du noch etwas bekommst. Der Wilde, den du gestern angeschleppt hast, sitzt in der Küche und schaufelt in sich hinein, als hätte er seit Wochen nichts zu essen bekommen.« Catharina schnaubte empört. »Ich kann immer noch nicht fassen, dass du das getan hast.«
»Was getan?«
»Ihn hierher zu bringen. Jetzt wissen sie nicht nur, wo wir wohnen, sondern auch wie. Und was wir noch an Vorräten haben.«
Margaretha lachte auf. »Ich bin mir sicher, das wussten sie schon vorher. Und jetzt wissen sie eben, dass es bei uns nichts zu holen gibt.«
»Trotzdem war es verantwortungslos, ihn hierher zu bringen. Hierher, zu unseren Kindern. Das kannst du natürlich nicht nachvollziehen, du hast ja keine.«
»Catharina, ich denke, du übertreibst. Dieser Mann hat sich verletzt, er hat sich an einer unserer Fallen verletzt. Es war meine Pflicht, seine Wunde zu versorgen und mich um ihn zu kümmern. Schon alleine aus Nächstenliebe, die Jesus uns ans Herz gelegt hat. Wenn wir den Wilden freundlich behandeln, wird das nur gut sein für die Nachbarschaft. Und sie sind nun mal unsere Nachbarn.«
»Unsere Kinder hungern, wir hungern, aber für einen Wilden haben wir Platz? Ihm können wir Essen anbieten? Wein?«
»Du brauchst deine Speisen nicht mit ihm zu teilen, Catharina. Soweit ich weiß, hast du noch Ochsenfleisch und Butter, einiges andere auch.« Esther schnaufte erbost. »Du hast dich bisher von unseren Vorräten ernährt, unseren Wein getrunken. Und wenn wir diesen nun mit dem Wilden teilen, ist das unsere Entscheidung.«
»Ich zähle also weniger als er? Das sagt viel über euch aus.«
»Wir zählen offensichtlich weniger als du. Denn du hilfst nicht, du kochst nicht, und du teilst auch nicht. Wie sollen wir das deuten?« Esther stemmte die Hände in die Hüften.
»Das ist nicht wahr. Auch ich habe schon etwas abgegeben, ich teile durchaus. Aber nicht so freigiebig wie ihr mit allen und mit Fremden, wie dem Wilden. Wenn man alles weggibt und schließlich selbst verhungert, dann war das eine falsche Entscheidung.«
»Catharina, der Wilde ist seit gestern hier, er nimmt gerade seine zweite Mahlzeit hier ein.«
»Hast du gesehen, wie er das Essen in sich hineinschlingt?« Catharina verzog das Gesicht.
»Darum geht es doch gar nicht. Es geht nicht um seine Manieren.« Esther schüttelte den Kopf. »Ich gebe es auf, es hat keinen Sinn. Komm, Margret.« Sie zog ihre Schwägerin mit sich in die Küche.
Margaretha überlegte nur kurz, ob sie die Wunde des Wilden anschauen oder zuerst etwas essen sollte. Es roch köstlich nach frischem Brot und Brei. Sie nahm sich eine Schale, füllte diese und setzte sich an den Tisch. Die Männer hatten die Hütte schon im Morgengrauen verlassen, um auf Jagd zu gehen. Hololesqua nickte ihr nur kurz zu, widmete sich dann wieder seiner Speise.
»Dies ist nun die dritte Schüssel, die er leert«, sagte Esther leise und setzte sich neben Margaretha. »Catharina hat recht, monatelang können wir ihn nicht auch noch durchfüttern.«
»Das werden wir sicherlich nicht müssen. Mach dir keine Sorgen.« Margaretha brach ein Stück Brot ab, stippte es in den Getreidebrei. »Sorgen müssen wir uns um die Gemeinde machen. Ich war bei Theißens und bei Luckens, beide Familien haben kaum noch etwas zu essen.« Sie holte tief Luft. »Es ist grausam anzusehen, wie sie verhungern. Es gibt zwar noch Hülsenfrüchte, aber die Ernährung schwächt
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