Die heimliche Lust
sprachen davon, ihr eigenes Leben jetzt aus diesen zwei unterschiedlichen Blickwinkeln zu sehen, vom Standpunkt der verheirateten Frau in ihrer Position konventioneller Bravheit aus und von dem des Outlaw, der irgendein grenzenloses, uneingefriedetes, gesetzloses Gebiet durchstreift. Sie waren jetzt imstande, ihre Sichtweise so zu verändern, daß sie einen weiteren Überblick erhielten, wobei sowohl ihr verheiratetes »braves« Selbst als auch ihr »ehebrecherisches, schlimmes« Selbst klar hervortraten. Das so entstandene Bild war klarer und vollständiger; es hatte mehr Tiefenschärfe als jeder der beiden Schnappschüsse für sich genommen.
Wenn sie sich selbst sowohl von innerhalb als auch von außerhalb der Institution Ehe betrachteten, hatten sie das Gefühl, ihr Leben und ihre Beziehungen ehrlicher einschätzen zu können; dank dieser neuen Perspektive konnten sie unterschiedliche Kriterien für die Bewertung von sich selbst und der Welt heranziehen.
Ihre Selbsteinschätzungen, die einst aus minuziösen Schilderungen ihrer Mängel bestanden, änderten sich. Auch ihre Sprache änderte sich, und sie hatten sich befreit von Selbstverurteilungen, sei es, daß sie »keine genügend gute« Ehefrau oder »eine zu egoistische« Person seien; sei es, daß ihre Schenkel »zu dick« und ihre Stimme »zu laut« seien. Was sie sahen und worüber sie redeten, kreiste nicht länger um »zu sehr« dies, »nicht genügend« das. Sie traten aus dem Schweigen heraus und erhielten wieder Zugang zu dem »verlorenen« Vokabular ihrer eigenen Gefühle.
Das war ein Vokabular ohne »sollte«, erfüllt von farbigen Worten der Lust und Lebensfreude. Jetzt, da Donna Reed nicht mehr ihr Vorbild war — denn durch ihren Seitensprung hatten sie ihren Anspruch auf Vollkommenheit bereits verloren — , begannen sie, die Tiefenströmungen ihres Lebens wahrzunehmen, und versuchten nicht länger, in den täuschend ruhigen Gewässern darüber zu schwimmen. Jetzt, da es Bewegung und Leben und den Klang ihrer eigenen Stimme gab, kam auch ihr physisches Selbst wieder zu sich.
In einen Körper zurückkehrend, den sie als ihren eigenen empfanden und der sich wieder intakt fühlte, begannen sie, freimütig ihre eigenen Gefühle zu registrieren. Sie fühlten sich zwar manchmal traurig, aber sie waren auch glücklich; sie hatten einen hohen Preis bezahlt, aber es hatte sich gelohnt; sie hatten ein Idealbild verloren und empfanden Bedauern über ihren Verlust von Unschuld, aber über beides waren sie auch heilfroh. Ihr Leben war nicht vollkommen, aber sie benutzten »Vollkommenheit« nicht mehr als Maßstab. Dieses Gefühl der Verwirrung — daß »man von der Ehe erwartet, daß sie einen glücklich macht, und ich sicher bin, glücklich zu sein, und deshalb bin ich auch glücklich, wahrscheinlich, ich meine, ja, ich bin es« — löste sich ebenso auf wie der Zwang, unter dem sie früher gestanden hatten, immer mehr Gutes zu tun, um sich immer weniger schlecht zu fühlen, wobei sie aber beides nicht schafften. Entledigt des Leitbilds der Stummheit und Angepaßtheit durch den gravierendsten Normenverstoß, den sie früher als »egoistisch« und »unanständig« bezeichnet hätten, fühlten sie sich jetzt »erlöst«. »Ich fühle mich befreit von dieser belastenden Reinheit«, sagte Paula — und wie beim Verlust der Jungfräulichkeit gab es von da kein Zurück.
»Ich habe mein Gehirn zurückbekommen«
»Ich habe mein Gehirn zurückbekommen« sagte die zweiundvierzigjährige Clara zu mir.
»Sie haben Ihr Gehirn zurückbekommen ?« wiederholte ich. »Durch eine sexuelle Erfahrung haben Sie Ihr Gehirn zurückgekriegt? Wo war Ihr Gehirn hingekommen ?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Ich habe es irgendwo unterwegs verloren, nehme ich an. Ich weiß bloß, daß ich wieder klar denken kann .«
»Wie kommt das ?«
»Ich meine, wenn ich jetzt einen Tag durchlebe, habe ich das Gefühl, meine Fähigkeiten zu nutzen. Ich merke, daß ich bei meinen Handlungen eine echte Mitsprache habe und nicht auf Autopilot geschaltet bin .«
»Wie lang hatten Sie sich auf Autopilot geschaltet gefühlt ?«
»Jahrelang.«
»Denken Sie einmal zurück. Waren Sie auch an der Universität schon auf Autopilot ?«
»Ja.«
»Haben Sie während Ihrer Studentenzeit geheiratet ?«
»Ja.«
»Assoziieren Sie diesen Zustand mit dem Studium oder mit der Heirat ?«
»Nun, in gewisser Weise mit beidem. Beides waren Entscheidungen, die als solche zwar gut waren, die ich
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