Die heimliche Lust
aber nicht wirklich selbst getroffen habe. Ich bereue sie nicht — ich bin glücklich über meine Ehe und meinen Beruf — , aber damals bin ich in beides quasi hineingestolpert. Und obwohl ich froh bin, daß ich keine selbstzerstörerischen Entscheidungen getroffen habe, weiß ich im Grunde nicht, nach welchen Kriterien ich vorgegangen bin. So bizarr das klingt, ich habe das Gefühl, ein anderer Mensch habe sich eingeschaltet und gesagt: >Hör zu, Clara, das ist ein guter Beruf für dich, und das ist ein guter Mann .< Und ich gehorchte. Dabei hatte ich verdammtes Glück, daß ich nicht einen Mörder geheiratet oder beschlossen habe, eine professionelle Lambada-Tänzerin zu werden .«
»Weil Sie bei Ihrer Wahl in gewisser Weise nicht bewußt vorgegangen sind ?«
»Ja, richtig. Ich weiß, daß das merkwürdig klingt. Ich bin kein Ibsen-Geschöpf, das in einem Puppenhaus festsitzt. Aber nein, das stimmt auch nicht; in gewisser Weise war ich wirklich so. Meine Freundinnen und ich staunten bloß, was aus uns geworden war. Inzwischen bin ich mir dessen bewußt. Irgendeine Schaltung ist in meinem Gehirn zustande gekommen. Es klingt verrückt. Ich habe mich immer gefragt: >Mag er mich ?< ; kein einziges Mal: >Mag ich ihn?<
Seit mein Gehirn richtig tickt, fühle ich mich endlich wieder erwachsen, bin ich einer von den lebendigen, atmenden, denkenden, vögelnden Menschen in einer intensiven Beziehung, in der ich mich wohl fühle. Sie können sich nicht vorstellen, welch völlig anderes Selbstgefühl diese Veränderung in Gang gesetzt hat. Mit zweiundvierzig hatte ich mich wie eine Heldin aus einem der Romane von Anita Brookner zu fühlen, eine wirklich tugendhafte Person, halbtot, mit einem verrostenden Gehirn, die spitzzüngig und exzentrisch wird, weil sie klüger ist als viele andere Frauen, aber gleichzeitig unbeholfen in der Kunst, zu bekommen, was sie will.«
»Und Sie haben das Gefühl, in dieser Hinsicht jetzt klüger zu sein ?«
»Ich denke, ich bin nun imstande, zu kriegen, was ich will .«
»Was zum Beispiel?«
»Das betrifft alles. Jede Entscheidung, die ich fälle, bezieht jetzt auch mich ein. Ich schließe mich nicht mehr aus, wie ich das früher getan habe. So habe ich zum Beispiel Familienausflüge organisiert, die absolut nicht das waren, was ich tun wollte. Ich bin allergisch gegen die Sonne, ich kann den Strand nicht ausstehen, und ich werde seekrank. Trotzdem bin ich bei den Angelausflügen meines Mannes mitgefahren und habe Medikamente gegen Seekrankheit genommen, bloß um sie durchzustehen, ganz zu schweigen von den Unmengen an Sonnenschutzmitteln. Und niemand in der Familie zuckte mit der Wimper, außer daß sie ein bißchen sauer waren, weil ich den Ausflug nicht so genoß .«
»Und heute würden Sie solche Ausflüge nicht mehr machen ?«
»Um nichts in der Welt. Letztes Jahr wollten mein Mann und mein Sohn einen Angelurlaub machen, und das haben sie auch getan. Aber ich bin nach Fondon gefahren. Dieses Jahr fahren wir nach Deutschland .«
»Und alles aufgrund Ihrer außerehelichen Beziehung?«
»Das war der Grund, weshalb ich eine Entscheidung traf, die nur für mich war. Es war schon irgendwie unerhört, unglaublich, und es hat bewirkt, daß ich das Rad nie wieder zurückdrehen werde; es wäre mir inzwischen unmöglich, eine Entscheidung zu treffen, die mich nicht berücksichtigen würde. Ich habe eben mein Gehirn zurückbekommen. Ich habe mich selbst wiedergefunden .«
Für Clara war es ihr »verlorengegangenes Gehirn«, das sie wiederfand. Für andere Frauen war es ihr Herz, ihr Humor, ihre Stimme oder ihr Gedächtnis — die Rückgewinnung irgendeines integralen Bestandteils ihrer selbst, der wesentlich für ihre Funktionsfähigkeit war — mit der Folge, daß sie sich wieder »ganz« und »lebendig geworden« fühlten.
Rückkehr in die Beziehung
Alison, die ewig gefröstelt hatte, stellte jetzt ihre eigene Sichtweise von der Vollkommenheit ihrer Ehe in Frage. Sie eröffnete einen Dialog mit ihrem Mann, der nicht voraussetzte, ihn oder ihr Zusammenleben als ideal anzusehen, und beendete dadurch, wie sie stolz erklärt, ein zwanzigjähriges Schweigen. »Und so«, fügt sie hinzu, »begannen wir zu streiten .«
»Worüber ?« frage ich.
»Über alles, im Moment. Ich glaube, ich habe die Streitigkeiten vom Zaun gebrochen. Um zu sehen, ob diese Sache Wirklichkeit war, diese neue Sache, die wir hatten, die darin bestand, nicht einfach den Mund zu halten, wenn wir uns ärgerten. Er
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