Die heimliche Lust
Russell reagieren? Wie würde es Chloe tangieren, falls sie es wüßte? Und wenn sie es nicht wüßte? Welche Folgen hätte es für ihre Ehe, wenn sie ein Verhältnis hätte und Russell dahinterkäme? Würde sie leugnen? Um Verzeihung bitten? Bereuen? Wie verhielten sich andere Frauen? Aber jetzt dachte sie, o ja, ich bin der Inbegriff ehelichen Anstands: an manchen Tagen vögle ich mit meinen Mann, an anderen mit meinem Geliebten, und an wieder anderen, unvermeidlichen, gräßlichen Tagen, mit beiden hintereinander.
Als Medizinjournalistin mit Schwerpunkt Psychologie war sich June zumindest ihrer eigenen Tricks bewußt, selbst wenn sie nicht genau wußte, vor welcher Erkenntnis sie sich mit ihren Manövern eigentlich bewahren wollte. Sie wußte, daß diese Frage, die sie sich unablässig stellte — hätte ich Russell geheiratet, wenn ich kein Kind gewollt hätte? — , nichts ändern würde, gleichgültig, ob die Antwort ja oder nein lautete. Und es amüsierte sie auf eine zynische Weise, zu entdecken, daß sie es genauso wie viele ihrer Freundinnen schaffte, die wirkliche Frage zu vernebeln, von der sie wußte, daß sie sie lösen mußte: Warum, wenn sie angeblich mit Russell so glücklich und in ihrer Ehe so zufrieden war, warum schlief sie dann mit Jonathan?
Sie hatte Jonathan eineinhalb Jahre zuvor auf einem Psychologenkongreß in San Diego kennengelernt. Jonathan war Psychologe und lebte wie sie in Los Angeles. Das Referat, das er gehalten hatte, war ausgezeichnet gewesen; das hatte sie ihm nach der Vormittagssitzung gesagt. Sie freundeten sich auf diesem Kongreß an, tauschten sich über ihre jeweiligen Interessen in ihrem Fach aus, klatschten über die Referenten des Kongresses. Jonathans Durchblick begeisterte sie; Junes müheloses, intuitives Verständnis für alle wesentlichen psychologischen Theorien beeindruckte ihn. Sie waren beide hingerissen voneinander.
Jonathan war vierundvierzig, seit fünf Jahren geschieden. Er war elf Jahre verheiratet gewesen, hatte zwei Jungen, neun und sieben, und sein Verhältnis zu seiner Exfrau war immerhin so gut, daß er seine Kinder häufig sehen konnte, ohne an starre Besuchszeiten gebunden zu sein. Er hatte nicht die Absicht, erneut zu heiraten: Seine Praxis, seine Kinder und seine Reiseleidenschaft nahmen ihn genügend in Anspruch und verschafften ihm so viel emotionale Befriedigung, daß er die Ehe nicht vermißte, obwohl er, wie er sagte, nichts dagegen habe. Die Ehe sei eine gute Sache. Nicht, daß er nie wieder heiraten wolle, bloß im Augenblick sehne er sich nicht danach. Eines Tages, vielleicht.
»Ich kann mir nicht erklären, wie ich meine Überzeugungen in bezug auf Monogamie über Bord werfen und diese Nimm-dir-was-du-brauchst-Einstellung zum Sex annehmen konnte«, sagt June, »aber so war es. Meine Überzeugungen lösten sich einfach in Nichts auf, und ich machte die schnellste Kehrtwendung, die man sich vorstellen kann. Als ich an dem Abend in mein Zimmer ging, dachte ich: >Ich will diesen Mann. Ich werde ein Verhältnis mit ihm anfangen<, als ob ich eine abgebrühte... Ehebrecherin wäre. Ich war klarer im Kopf als je zuvor. Ich bin vor mir selbst erschrocken, habe mein Denken überprüft, im Sinne von >Also hör mal, June, das ist nicht dein Stil, das ist das Gegenteil von deinem Stik. >Bist du sicher ?< fragte ich mich. >Und wie !< lautete meine Antwort. Weit war es mit meinem Über-Ich also nicht her.
Ich empfand mehr als die Versuchung, mit ihm zu schlafen, ich war entschlossen dazu, als ob ich etwas gefunden hätte, das ich einfach haben mußte, und die Welt zusammenbräche, wenn ich es nicht bekäme. Ich empfand eine richtige Gier, ein irres Verlangen — all diese Worte, über die ich mich lustig gemacht hatte, wie Wachstums und >Erfahrung<, stürzten auf mich ein: Plötzlich hatte ich das Gefühl, mein Leben sei dazu da, alle meine Möglichkeiten zu entwickeln, und dies sei der einzige Weg dazu; ich würde vergeuden, was gut für mich war, wenn ich diesen Weg nicht ging. Ich würde eine Frau ohne Vitalität sein, eine alberne, ängstliche Niete. Alles in mir sagte carpe diem!, laß dir diese Gelegenheit nicht entgehen, und erstickte das schwache, kleine >Tu es nicht, weil du eine verheiratete Frau bist<, das mir plötzlich etwa so zwingend vorkam wie meine Iß-keinen-Zucker-Vorsätze. Ich war von meiner eigenen Heftigkeit ebenso überrascht wie über die Dummheit, die ich meinen eigenen Normen zuschreiben mußte. Es war nicht, als habe die
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