Die heimliche Lust
Moral aufgehört zu existieren; es war, als habe sich mir eine höhere Moral, deren ich mir bisher noch nicht bewußt gewesen war, endlich gezeigt. So muß es sein, wenn Menschen einen Mord rechtfertigen: ES IST RICHTIG. Gott will es so. Tu es.
Und so beschloß ich, weil ich auch nicht das kleinste bißchen schwankte, nun nicht irgendeine lächerliche Begründung an den Haaren herbeizuziehen, um mich zu rechtfertigen oder mich davon abzubringen. Ich wollte mich darauf einlassen und mich um den Rest später kümmern .«
Das war insofern merkwürdig, als June neun Jahre lang keinerlei Verlangen nach einem anderen Mann verspürt hatte, obwohl sie vor der Heirat sexuell sehr aktiv gewesen war und sich an die Seligkeit erinnert, als sie mit siebzehn mit ihrem geliebten Freund Frank schlief; sie erinnert sich an »diese explosiven Gefühle«, und wie sehr sie sie genossen hatte.
Sie hatte mehrere sexuelle Beziehungen gehabt, bevor sie Russell heiratete; von diesem Zeitpunkt an habe sie die Möglichkeit, mit anderen Männern zu schlafen, quasi »vergessen« — ein Faktum, das, wie sie meint, weniger auf sexuelle Befriedigung zurückzuführen sei als darauf, daß sie »weg vom Fenster« war. In den neun Jahren ihrer Ehe hatte sie das Gefühl, ihre Sexualität sei ausschließlich für die Ehe reserviert. Sie hatte sie ihrem Mann wie ein Geschenk »überlassen«, sie gehörte jetzt ihm — und tatsächlich empfand sie außerhalb ihres Zusammenseins mit Russell kaum sexuelle Bedürfnisse. Mit Russell hatte sie keine Orgasmusschwierigkeiten. Was sie verlassen zu haben schien, war das Bewußtsein, mit ihren sexuellen Empfindungen verbunden zu sein. Sie hatte das Bewußtsein von sich selbst als einem Geschlechtswesen, dem diese Empfindungen zuallererst zu eigen sind, verloren.
»Früher gehörte zu meinem Selbstbild immer auch meine Sexualität; ich dachte an Sex und fühlte mich sexy — nicht in dem Sinn, daß ich entsprechende Reaktionen von Männern brauchte, sondern für mich selbst. Ich tanze gern, habe seit meiner Kindheit immer irgendwelche Kurse besucht, moderner Tanz, Jazz oder Ballett; und ich hatte immer ein sehr ausgeprägtes Körperbewußtsein .«
»Dieses Gefühl haben Sie verloren ?«
»Ja. Ich habe es verloren, schon bevor Chloe geboren wurde, etwa um die Zeit, als wir heirateten. Das geschah jedoch ganz unmerklich. Ich machte keine Tanzkurse mehr. Ich brach den Kontakt zu anderen Männern ab. Und es machte mir nichts aus; ich sagte mir, tja, das macht man nun einmal, wenn man heiratet, was ist dagegen einzuwenden? Es ist ein Geschenk der Liebe .«
Ihre erste Nacht mit Jonathan war weniger befriedigend als vielmehr intensiv. Zunächst bekam sie es doch mit der Angst zu tun, als ihr plötzlich klar wurde, wie impulsiv dies war, und daß sie vielleicht nicht richtig überlegt hatte, was sie da tat. Ihre erste Entschlossenheit — dieses Nimm-dir-was-du-brauchst-Gefühl und ihre Überzeugung, daß dies richtig sei — sie verpufften in dem Augenblick, als sie anfingen, sich zu entkleiden. Was zum Teufel tu ich da, dachte sie. Ich bin eine verheiratete Frau! Und das miese Gefühl, das sie in diesem Augenblick empfand, war das genaue Gegenteil des unschuldigen Entzückens, das sie gespürt hatte, als sie Jonathan in ihr Zimmer einlud.
»Und was haben Sie da getan ?« frage ich.
»Ich habe ihn gebeten, zu gehen«, sagt sie.
»Was hat er gesagt ?«
»Er zögerte lange, dann sagte er: >Hmmm. Ich verstehe< .«
»Der Therapeut.«
»Ja. Er zog sich an und ging. Ich war wie gelähmt. >Was soll das heißen, du verstehst ?< , wollte ich zu ihm sagen. >Wie kannst du verstehen ? Du weißt nicht, wie sehr ich das will. Du bist nicht verheiratet, du bist keine Frau, wie kannst du wissen, wie ich mich dabei fühle! Du weißt nichts über mich! Du glaubst, ich bin eine einsame Frau, die auf Abenteuer aus ist, eine gelangweilte Person, die sich amüsieren möchte. Du glaubst, ich treib’ nur ein Spiel mit dir !< So rief ich ihn wie von Sinnen in seinem Zimmer an.«
»Und Sie haben ihm all das gesagt ?«
»Ja. Er wohnte nur vier Türen weiter, und ich schrie ihn wie eine Verrückte über das Zimmertelefon an, wie Sophia Loren und Marcello Mastroianni in einer dieser schrecklichen Komödien. Er fragte: >Willst du, daß ich zurückkomme ?< , und ich sagte: >Natürlich will ich das! Wenn du wirklich verstehen würdest, würdest du das wissen. Ja! Ja, ich will es!<« Und sie mochte ihn, mochte seinen Körper, wie er mit
Weitere Kostenlose Bücher