Die heimliche Lust
Sie geben uns zu verstehen, daß das Wissen des Geborgenen in Gefahr ist, weggespült oder übergangen zu werden. Sie sind einer Art Stimm- und Gehörtraining ausgesetzt, das ihnen klarmachen soll, welche Art von Stimme die Leute bei Mädchen gern hören und was Mädchen sagen dürfen, ohne nach heutigen Maßstäben als »dumm« oder »unhöflich« zu gelten. In ihrem Alltag erhalten die Mädchen dauernd Lektionen darüber, was sie mitteilen dürfen und was sie für sich behalten müssen, wenn sie nicht von anderen als verrückt oder unanständig bezeichnet werden wollen — oder einfach zu hören kriegen, sie hätten unrecht.
Die Stimmen, die die Leute hören wollen, sind sichtlich nicht ihre wirklichen Stimmen; das merken die Mädchen rasch. Genausowenig sind die Eigenschaften der vorbildlichen Ehefrau diejenigen, die die Frauen, mit denen ich sprach, zu besitzen glaubten. Die Stimmen von Mädchen, die die Leute hören wollen, in diesem Augenblick des Erwachens ihrer Sexualität, sind überhaupt keine Stimmen.
Eine landesweite Befragung von 3000 Mädchen und Jungen über den Zusammenhang zwischen Geschlecht, Selbstachtung und Erziehung, 1990 von der American Association of University Women (AAUW) begonnen, hat ergeben, daß sich nur 15 Prozent der Mädchen auf eine Diskussion mit ihren Lehrerinnen einlassen, wenn sie glauben, im Recht zu sein, verglichen mit fast einem Drittel der Jungen. Die Lehrerinnen rufen Mädchen seltener auf als Jungen, und sie neigen dazu, die Arbeiten der Jungen nach deren inhaltlichen Leistungen zu beurteilen, die der Mädchen nach deren sauberer und ordentlicher Form. Nur 29 Prozent der Mädchen stimmen der Aussage zu: »Ich bin zufrieden mit mir, so wie ich bin«, verglichen mit 46 Prozent der heranwachsenden Jungen. Tatsächlich sackt der Prozentsatz von Mädchen, die der Aussage zustimmen, »Ich mag die meisten Dinge an mir«, in den mittleren Schuljahren um fast 15 Punkte ab. Angesichts ihres geringen Vertrauens zu sich selbst und ihren Fähigkeiten, beginnen die Mädchen, ihr Äußeres als den wichtigsten Maßstab ihres Selbstwertes anzusehen. In den mittleren Schuljahren mögen aber nur 16 Prozent der weißen Schülerinnen, 10 Prozent der hispanischen Mädchen und 25 Prozent der farbigen Mädchen ihr eigenes Aussehen. Der Bericht kommt zu dem Schluß, daß der Verlust an Selbstachtung für die Mädchen weitaus gravierender sei als für die Jungen und daß er »die am längsten anhaltende Wirkung« habe.
Jetzt, da sie mit der Mauer der »westlichen Kultur« konfrontiert sind, wie Gilligan es nennt — womit sie das Patriarchat meint — , beurteilten sich die Mädchen plötzlich nach einem ihnen unvertrauten neuen Maßstab: Sie beginnen, sich mit den Augen anderer zu sehen, sich dadurch als Objekte, nicht als Subjekte wahrzunehmen und ihre wirklichen Gefühle und Beobachtungen befangen für sich zu behalten. Sie verstummen, weil das Aussprechen der Wahrheit, wie sie sie erkennen — nicht, wie man von ihnen erwartet, sie zu erkennen als rebellischer Regelverstoß bewertet wird. Sie befürchten, daß ihr Wissen, wenn sie es aussprächen, ihre Beziehungen gefährden würde. Sie werden mit dem zentralen Dilemma von Beziehungen konfrontiert: »Wie man ehrlich reden und gleichzeitig die Nähe zu den anderen bewahren kann .«
In ihrem Bestreben, so zu sein, wie andere sie haben wollen, und nicht, wie es ihren Gefühlen am besten entspricht; in ihrer Verwirrung, wie sie die Beziehung zu anderen erhalten, aber gleichzeitig sich selbst treu bleiben können, neigen Mädchen dazu, sich unterzuordnen, sich zu zensieren, um sich bei den anderen beliebt zu machen — bis sie schließlich ihre Klarheit und ihren Mut verlieren. Das Ergebnis dieses Vorgangs, daß Mädchen ihr Wissen verdrängen, seien »Selbstzweifel, Ambivalenz, Panik und Verlust«, so die Psychologin Lynn Mikel Brown. Eine solche Selbstentfremdung ist genau das, was June gleich nach ihrer Heirat erlebte, als sie nicht länger sicher war, was sie empfand, und das Bewußtsein ihrer eigenen Sexualität verlor.
Dieser Prozeß zwingt Mädchen zu verstummen, unauthentisch zu werden, ohne Kontakt zu ihren Gefühlen, mit der Folge, daß sie zutiefst unsicher werden, außerstande, sich in den realen Beziehungen, die noch Augenblicke zuvor ihr Lebenselixier bildeten, weiterhin ehrlich zu äußern. Dies ist der Augenblick, in dem Eltern sagen: »Was ist passiert? Noch gestern war sie so selbstsicher !« Das Mädchen steckt in einer
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