Die heimliche Lust
sie. »Welchen Verdruß denn? Was würde geschehen, wenn Russell mehr als einen flüchtigen Eindruck von Ihrer Vergangenheit erhielte? Was wäre, wenn Sie Ihre sexuelle Geschichte nicht auslöschten ?«
Ich weiß nur, daß ich sie [die Briefe] eines Tages las und dachte, sie seien so peinlich, so dumm, ich muß sie loswerden. Ich weiß im Grunde nicht, warum. Ich wollte jedenfalls nicht..., daß meine Kinder sie sehen.
»Warum halten Sie alle Ihre Gefühle, alle Erfahrungen, die Sie vorher machten, für >peinlich< und >dumm< ?«
»Wenn Sie sehen könnten, was ich geschrieben habe«, antwortete sie, »würden Sie es verstehen .«
Die sexuelle Vergangenheit begraben
Viele Frauen hatten vor ihrer Heirat irgendeine Art von Tagebuch geführt — und viele hatten es weggeworfen. Aber ebenso wie June fiel es ihnen schwer, zu erklären, warum. Ein Grund, den mir eine 40jährige Frau namens Natalie nannte, war:
Es schien mir nicht richtig, etwas zu verbergen, da ich doch vor meinem neuen Mann nichts zu verbergen haben sollte.
Verwundert über eine Logik, die das Problem des Verbergens ganz auf den Gegenstand verlagert, fragte ich Natalie: »Wenn es vor Ihrem Mann nichts zu verbergen gibt, warum werfen Sie dann die Tagebücher weg? Verbergen Sie damit nicht faktisch sich selbst ?« »Ich wüßte gar nicht, wo ich die Tagebücher hinlegen soll .« »Geht es wirklich darum ?« frage ich. »Gibt es keinen anderen Grund ?«
»Ich habe ein neues Leben, ich brauche sie nicht mehr. Wirklich. Sie würden nur Probleme schaffen, das weiß ich .«
Diese Frau begrüßte ein neues Leben, das diese alten, abgenutzten Zeugen turbulenter Gefühle irrelevant machen würde — die emotionale Geschichte einer vorehelichen Existenz, die ihr irgendwie nicht länger angebracht schien. Janna, eine seit vier Jahren verheiratete 33jährige Frau, dachte lange über diesen Punkt nach; sie sei sich nicht sicher, warum sie ihre — vom elften Lebensjahr an geführten — Tagebücher weggeworfen habe, vielleicht weil
ich mein Tagebuch immer schon versteckt habe, zuerst vor meiner Mutter und dann vor meinen Schwestern. Das stand also für mich außer Frage, daß sie versteckt werden mußten. Ich habe da jedes Gefühl hineingeschrieben, das ich hatte, meine ganze Wut, alle meine kleinen Missetaten und Gedanken. Später, als es um Jungen ging, habe ich darin meine sexuellen Empfindungen und all das festgehalten. Ich weiß nicht, warum ich nicht beschlossen habe, sie einfach weiterhin zu verstecken, aber das erschien mir einfach unerträglich albern. Schließlich war ich eine erwachsene Frau. Wo sollte ich sie aufbewahren? »Liebling, würdest du deine Schreibtischladen ausräumen, damit ich Platz für meine Tagebücher habe, die du nicht sehen darfst ?« — Etwa so? Dann überlegte ich mir, daß sie keinen Nutzen mehr für mich hatten; sie würden
einfach zuviel Platz in unserer Wohnung einnehmen, und wofür? Ich glaube, ich hatte das Gefühl, sie nicht rechtfertigen zu können — als ob sie alte, ausgestopfte Tiere oder so etwas wären.
Wendy, 28, seit zwei Jahren verheiratet, begründete ihr Verhalten so: »Dieses Kapitel meines Lebens ist vorüber .« Andere Frauen stimmten ihrer Auffassung zu, daß »vorüber« soviel wie »gelöscht« bedeutete. Tatsächlich hatten die meisten das Gefühl, daß sie in der gleichen Situation die Zeugnisse ihrer Vergangenheit »wiederum beseitigen« würden. Wendy sagt:
Ich war im Begriff zu heiraten. Es schien mir richtig, das alles loszuwerden. Tatsächlich saßen meine Mutter und ich beisammen und lasen [die Briefe] — wir haben uns vor Lachen gebogen, weil da einige unheimlich schmachtende Briefe von Männern dabei waren, an die ich mich nicht einmal erinnern konnte, und dann warfen wir, warf ich sie ins Feuer. Es war wie ein Initiationsritus, etwas, das Frauen einfach tun müssen.
Es war ein Initiationsritus zur Feier des Brautstandes und der Verwandlung in einen Zustand, in dem sie sich der Ehe als würdig erwies. Es ging darum, jemand Neuer und Besserer zu werden. Ebenso wie eine Taufe oder sonstige religiöse Wiederherstellung der Unschuld diente das Ausradieren ihrer ganzen sexuellen Geschichte dazu, sie zu »reinigen«. Es war nicht nur gerechtfertigt, sondern lobenswert, so empfanden es diese Frauen; ein Anerkenntnis der besitzergreifenden Gefühle eines Ehemanns gegenüber seiner Frau. Freud schrieb in seinem Essay von 1918, »Das Tabu der Virginität«: »Die Forderung, das Mädchen dürfe in
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