Die heimliche Päpstin
Evangelium zu erläutern. Jeder erwartete, daß er den Hilferuf wiederhole, um Stärke und Einheit bitte, die Ungarn verdamme und dem Volk der Römer Hoffnung auf Errettung mache.
Genau so geschah es. Papst Johannes sprach nur kurz, umriß die Situation, beschwor Zusammenhalt und Opferbereitschaft der Menschen, rief den Herrn an und zitierte noch einmal den Text des Evangeliums: »Sende dein Licht und deine Wahrheit!«
In diesem Moment sprang Marozia auf und rief mit durchdringender Stimme: »Die Wahrheit ist, daß ein Verräter mitten unter uns sitzt: Dein angeblicher Bruder Pietro hat die Ungarn gerufen, und er wird sie heimlich in die Stadt lassen. Dort sitzt er!« Sie wies mit ausgestreckter Hand auf Pietro. »Ergreift ihn!«
Zuerst geschah gar nichts. Alle waren so überrascht, daß sie den Atem anhielten. Papst Johannes starrte auf sie wie auf den Leibhaftigen. Manche hatten halb geschlafen und fragten leise ihren Nachbarn, worum es gehe. Ihre Stimmen wurden immer lauter, als wiederholt wurde, was Marozia in riskanter Kühnheit gerufen hatte.
Sie sprang auf die Bank, streckte ihren Arm wie ein Prophet aus und wiederholte ihre Worte: »Dort sitzt der Verräter. Es ist Pietro. Gottes Zorn möge über ihn kommen!«
Wie zu erwarten, entstand ein heftiger Tumult. Ich hörte Rufe wie »Lüge!«, »Verlogenes Weib!« und »Verdammte Hure!«, der Papst war plötzlich von der Kanzel verschwunden und tauchte vor dem Altar auf, Giovanni blickte sich erschrocken und hilflos um, ein Teil der Prälaten zog sich bereits in die Sakristei zurück, ein anderer sank betend auf die Knie, die Menge drängte nach vorne, so daß auch wir immer näher an den Altar geschoben wurden.
Vor lauter Getöse konnte ich nichts mehr verstehen. Ich sah nur den Papst seine Arme beschwörend heben, ohne Erfolg. Was taten Alberico und seine Männer, die ja alle ihre Waffen unter den Mänteln trugen? Zückten sie ihre Schwerter? Ich hörte Alberico einen Befehl brüllen, keiner zog seine Klinge, alle warteten sie kaltblütig ab.
Und auf der anderen Seite, was tat Pietro?
Seine Männer bildeten einen festen Kreis um ihn, und tatsächlich, sie zogen ihre Waffen.
Obwohl sich der Lärm in der Basilika zu einem Protest- und Wutgeschrei verstärkte, stürmten Pietro und seine Kämpfer auf den Altar zu, wo sie am meisten Platz fanden, schreckten jedoch vor einer abwehrenden Geste des Papstes zurück. Nun richteten sie sich gegen unsere familia. Marozia stand auf der Bank, aufrecht und unerschrocken, als sei sie in der Lage, allein und ohne Waffen die Angreifer zu zerschmettern. Alberich und seine Männer zogen noch immer kein Schwert.
Pietro stürzte mit seiner Truppe in den Mittelgang und hieb nach allen Seiten, um sich Raum zu verschaffen. Zwischen unseren Männern und den Angreifern drängten sich so viele Unbeteiligte, daß wir von einem Schutzwall an Leibern umgeben waren und niemand zur Verteidigung ein Schwert ziehen mußte.
Mittlerweile stand in Pietros Augen Panik. Seine Helfer schlugen weiterhin unter Geschrei um sich, es floß Blut, Frauen sanken zu Boden, Kinder wurden getroffen.
Als die Menge begriff, daß Pietro und seine Männer sich jetzt zum Ausgang durchzukämpfen versuchten, daß sie unschuldige Menschen hinmetzelten, um ihre Haut zu retten, war jedem klar, daß Marozia recht hatte: Sie waren die Verräter, die Rom den Ungarn überlassen wollten.
Trotz der blitzenden Klingen erreichte die Truppe den Ausgang nicht mehr. Die Menschen schlossen den Ring um sie und drängten sie zusammen, so daß bald keiner mehr ein Schwert heben konnte. Fäuste wurden nicht nur geschüttelt. Die Menschen trampelten übereinander, alle wollten die Verräter ergreifen, würgen, erschlagen. Wie halb verhungerte Fliegen über stinkendem Aas quoll ein Menschengewimmel empor, wuchs ein tausendarmiges Ungeheuer über einem niedergetrampeltem Haufen aus Fleisch, Stoffen, Haaren und Schädeln.
Ich weiß nicht, wie lange wir warteten und zuschauten, entsetzt oder erleichtert, voller Angst oder in tiefster Befriedigung. Der Papst war längst mit all seinen Würdenträgern und Kardinälen verschwunden, als die Menge sich zu zerstreuen begann, unter vereinzelten Hochrufen auf Marozia und ihre Söhne Alberico und Giovanni, die nebeneinander auf der Bank standen. Als nur noch ein paar Neugierige von außen hereintröpfelten, um das Werk der Rache zu betrachten, näherten auch wir uns den erschlagenen Leibern, die sich in der Mitte der Basilica blutig
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