Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
aufgerissen.
Schweigen.
»Was meinst du dazu?«, fragte Jörn aufgeregt. »Du, ich und ein Kind?«
Sven nahm das Croissant aus dem Mund und schaute Jörn sehr lange an. Sehr, sehr lange.
»Sag was«, bat Jörn.
»Darüber habe ich tatsächlich auch schon nachgedacht«, sagte Sven schließlich.
Jörn strahlte.
Es war eine Lüge. Sven hatte bislang nicht einen einzigen Gedanken darauf verschwendet, wie es wäre, Vater zu sein. Er hatte nie das Bedürfnis verspürt, ein Kind großzuziehen. Deswegen hatte er sich auch nie schlaugemacht, wie und ob es für ein homosexuelles Paar überhaupt möglich war, zu adoptieren.
Doch als Jörn ihn mit dieser Idee überraschte und Sven in Jörns erwartungsvolle, fast flehende Augen blickte, zögerte er nur eine Weile. Warum eigentlich nicht?, sagte er sich dann. Vielleicht war es genau das, was ihrer Beziehung fehlte: eine gemeinsame Aufgabe, ein Fixpunkt in ihrer beider Leben.
Die vergangenen Monate hatte sich Sven immer wieder miserabel gefühlt, er wusste, dass er sich seinem Mann gegenüber unsensibel verhielt. Dass er ihn grausam auf Abstand hielt. Und manchmal fehlte sie ihm selbst, diese unbeschwerte Leichtigkeit, die Unaufgeregtheit und Gelassenheit, mit der sie am Anfang ihrer Beziehung miteinander umgegangen waren. Damals, als Sven noch kein Jemand war, sondern einfach nur am Leben. Doch diese Zeiten waren vorbei. Sven war inzwischen gefangen in einem Netz aus Erwartungshaltungen und Ehrgeiz, aus Bewunderungen, Eitelkeiten und reizvollen Aufgaben. Manchmal quälte es ihn, und er spürte einen großen Druck, aber gleichzeitig war es auch aufregend, ja, regelrecht berauschend. Der kleine Junge, der früher so schüchtern war, dass ihn alle übersahen, der Junge, der sich von seinem Freund Piet auf dem Spielplatz herumkommandieren ließ und jahrelang Angst hatte, sein Schwulsein zuzugeben – dieser Sven war endlich auf die andere Seite gewechselt. Auf die Seite der Sieger. Er wusste, dass er sich derzeit in der spannendsten Phase seines Lebens befand. Sie waren endlich da, die »großen Jahre« seiner Existenz. Und die wollte er ausleben. Mit voller Energie und absolutem Einsatz. Doch er wollte auch Jörn nicht verlieren. Und ein Kind? Ja, ein Kind könnte die Lösung sein. Es könnte sie zusammenschweißen. Auf einer anderen Ebene als früher vermutlich, aber immerhin. Und selbst wenn der Plan nicht aufging: Zumindest hätte Jörn dann eine Aufgabe.
Silvester 2003
W er hatte eigentlich die blöde Idee, hier zu feiern?«,
fragte Petra und schubste einen betrunkenen Mann zur Seite.
»Du, mein Schatz«, grinste Dille. »Erinnerst du dich nicht an deine eigenen Worte: Ich muss mal raus. Mir fällt zu Hause die Decke auf den Kopf. Lass uns am Hafen feiern.«
»Und warum ignorierst du das nicht einfach, wenn ich so etwas sage?«, fragte Petra. »Du hörst doch sonst auch nicht auf mich.«
Das Gespräch fand schreiend statt, denn es herrschten ein Lärm und ein Gedrängel, die jede normale Kommunikation unmöglich machten. Mehr als hunderttausend Menschen schoben und quetschten sich durch die Straßen und auf den Gehwegen. Viel aufgekratztes Partyvolk und Unmengen von Touristen. Und mindestens die Hälfte von ihnen war betrunken, was die Sache nicht angenehmer machte. Ständig hatte man einen Ellenbogen in den Rippen, eine Schulter im Gesicht oder einen Fuß auf dem seinen. Und selbst wenn man den ganzen Abend lang nur Pfirsich-Maracuja-Schorle trinken würde, so stänke man am nächsten Morgen trotzdem nach Bier und Schnaps. Der Alkohol schwappte nämlich von allen Seiten, stob förmlich durch die Luft, als wäre er natürlicher Niederschlag. Piet hatte vorhin einen vollen Becher Bier auf den Kopf bekommen, der einer kreischenden Blondine auf der U-Bahn-Brücke über ihm aus der Hand gefallen war, als sie nach ihrem Handy griff. Wie sie bei diesem Lärm das Klingeln überhaupt hatte hören können, war ihm schleierhaft.
Der kleine Adrian befand sich bei Oma und Opa. Petras Eltern wohnten inzwischen etwas außerhalb, in Sasel, wo der Lärm der Böller sich in Grenzen hielt und das Kind hoffentlich nicht zu sehr ängstigte. Nele war diesmal bei Susanns Eltern untergebracht worden. Die beiden waren verrückt nach ihrer Enkelin und würden ihr ganz sicher eine kindgerechte Bespaßung bieten – mit Knallerbsen, Bleigießen und Tischfeuerwerk.
Hier an den Landungsbrücken allerdings gab es mehr besoffene Knallköpfe als Knallerbsen. Hier goss man kein Blei, sondern
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