Die Henkerstochter und der K�nig der Bettler
Wange und schob ihn sanft Richtung Dom. Hinter ihnen auf dem Rathausplatz waren noch immer Geschrei und wütendes Schimpfen zu hören.
»Hier brauchen wir uns jedenfalls so schnell nicht mehr blicken lassen«, murmelte sie, nun wieder mit ernster Stimme. »Als ob wir nicht schon genug Schwierigkeiten hätten.«
Simon nickte keuchend. »Ich schlage vor, dass wir auf das Angebot dieses Floßmeisters eingehen und uns auf die Suche nach diesem komischen Wirtshaus machen. So, wie es aussieht, brauchen wir für die nächste Zeit eine billige Unterkunft.«
»›Zum Walfisch‹!« Magdalena rollte mit dem Augen. »Was für eine Spelunke das wohl sein mag?« Sie wandte sich zum Gehen. »Ich hoffe nur, sie stinkt nicht nach Fisch.«
Alssie um die nächste Ecke bogen, folgte ihnen ein schwarzer Schatten. Seine schmutzigen Stiefel glitten fast geräuschlos über die mit Kot und Unrat bedeckte Gasse, es war, als würde er schweben.
Jakob Kuisl wanderte wieder gebückt von der einen Zellenwand zur anderen. Vier Schritte waren es, mehr nicht. Trotzdem musste er sich bewegen, um seine Gedanken am Laufen zu halten.
Von draußen waren aufgeregte Stimmen zu hören, gellende Schreie und Rufe, auf dem Marktplatz schien irgendetwas vor sich zu gehen. Kuisl konnte nur hoffen, dass der Tumult nichts mit Magdalena und Simon zu tun hatte. Was hatten die beiden, verdammt noch mal, auch in Regensburg verloren! Waren sie ihm hinterhergereist, weil in Schongau etwas passiert war? Der Henker schüttelte den Kopf. Das hätte ihm seine Tochter bestimmt erzählt. Vermutlich hatte das freche Luder einfach beschlossen, der kranken Tante einen Besuch abzustatten und die Regensburger Stadtluft zu genießen. Der Schongauer Gerichtsschreiber Lechner ließ bestimmt schon nach Magdalena suchen! Schließlich war sie in Abwesenheit des Vaters mitverantwortlich dafür, dass der Mist aus den Gassen gekarrt wurde. Magdalena konnte froh sein, wenn sie bei ihrer Rückkehr dafür nicht in die Fronfeste wanderte. Und dieser Gockel von Simon gleich mit! Aber vorher würde Kuisl seiner Tochter noch einmal gehörig den Hintern versohlen.
Kuisl hielt inne, als ihm einfiel, dass er vermutlich seiner Tochter nie mehr die Leviten lesen würde, weil er nämlich hier in Regensburg verreckte. Im Grunde war es eine Fügung des Himmels, dass Magdalena und Simon ihm nachgereist waren. Sie waren seine einzige Hoffnung, demTod auf dem Schafott doch noch zu entgehen. Außerdem war der Zorn über seine freche Tochter wenigstens eine Ablenkung von seinen Erinnerungen. Zwar hatte er die Schrift an der Wand weggekratzt, das alte Landserlied, das ihn zurückgeführt hatte in eine Zeit, die er vergessen wollte. Doch der Samen war gesät, und die Dunkelheit und das Nichtstun trugen ihren Teil dazu bei, dass die Gedanken des Henkers immer wieder in die Vergangenheit wanderten.
Jedes Mal, wenn er die linke Wand seiner Zelle erreichte, fiel sein Blick auf die weiße Stelle, wo vorher noch die Liedzeile gestanden hatte, und die Erinnerungen durchzuckten ihn wie Blitze. Das Morden, Hauen und Stechen war wieder ganz nah.
Ohne es zu wollen, summte Jakob Kuisl den Anfang dieses Liedes.
Es ist ein Schnitter, der heißt Tod … Heut wetzt er das Messer, es schneid’t schon viel besser …
Als der Henker sein eigenes Summen hörte, klang es wie von einem anderen Mann.
Er biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte.
5
Regensburg, 19. August
anno domini 1662
D as Auge starrte kalt wie ein Murmelstein.
Es blinzelte nicht, zuckte nicht, weinte nicht, nicht das geringste Gefühl schien sich in ihm zu spiegeln. Manchmal glaubte Katharina, dass kein Mensch hinter diesem Auge steckte, sondern eine böse, monströse Puppe, die sie beobachtete, als wäre sie ein Vogel in einem Käfig oder ein Käfer, der in einer Schachtel von einer Ecke in die andere lief.
Schon längst hatte Katharina vergessen, wie lange sie in dieser Kammer eingesperrt war. Fünf Tage? Sechs? Oder sogar mehr? Es gab kein Fenster, durch das Licht eindringen konnte. Nur eine Klappe in der Tür, durch die ihr behandschuhte Hände Essen, Trinken und weiße Kerzen reichten und wo sie den Eimer mit ihrer Notdurft entsorgen konnte. Der einzige Kontakt zur Außenwelt war das kleine, fingernagelgroße Loch darüber. Schon oft hatte Katharina versucht, dahinter etwas zu erkennen. Doch alles, was sie sehen konnte, war ein dunkler fackelbeleuchteter Gang. Von irgendwoher drang gelegentlich leise Musik an ihre Ohren. Es klang
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