Die Henkerstochter und der K�nig der Bettler
endlosen Stunden. Die einzige Möglichkeit, die quälenden Gedanken wenigstens für kurze Zeit zu vertreiben.
Wo bin ich? Was hat er mit mir vor?
Wieder einmal spürte Katharina das Jucken in ihrem Rücken. Sie drehte sich um und starrte direkt in das Auge.
Es musterte sie, und irgendetwas schabte an der Tür entlang.
Es war Zeit für den nächsten Gang.
Magdalena und Simon mieden die großen Straßen, sie schlugen sich durch ein Labyrinth enger Gassen und schattiger Hinterhöfe, in denen der Mist und die Exkremente zu Haufen aufgetürmt waren. Dreckverschmierte Kinder und vom Krieg versehrte Männer starrten ihnen nach. Alte Soldaten auf Krücken oder mit schrecklichen Narben und Brandverletzungen im Gesicht hielten ihre Hand auf, als die beiden Fremden wortlos an ihnen vorübereilten.Überall wurden sie von ausgezehrten, räudigen Kötern angeknurrt, die zu Dutzenden die Gassen bevölkerten. Dies war das andere Gesicht Regensburgs, die schmutzige Seite, die so gar nichts mit den sauberen gepflasterten Straßen, dem schmucken Reichstag, dem Dom und den hohen Patrizierhäusern gemein hatte. Hier herrschten Armut, Krankheit und der Kampf ums tägliche Überleben.
Mehr als einmal glaubte Simon, hinter einer Ecke eine Gestalt zu sehen, jemand, der sie verfolgte, um ihnen einen Dolch in die Rippen zu rammen und ihnen die Reisesäcke wegzunehmen. Aber eigenartigerweise ließen sie die Bettler und Kriegsinvaliden in Ruhe. Simon war sicher, dass das weniger mit ihm zu tun hatte als vielmehr mit Magdalena. Ihr fester Gang und ihr zorniger Blick verrieten möglichen Dieben und Räubern, dass sie keine leichte Beute darstellte. Sie spürten, dass die Henkerstochter eine von ihnen war.
»Wenn dieses Wirtshaus nicht bald auftaucht, verdurste ich hier auf offener Straße«, schimpfte Simon und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Zum wiederholten Mal verfluchte er sich, dass er an der Donau die salzigen, fetten Würste gegessen hatte.
Die Hitze staute sich in den schmalen Gassen. Schon ein paar Mal hatten sie jemanden, der halbwegs vertrauenswürdig aussah, nach dem Weg zum ›Walfisch‹ gefragt und waren jedes Mal in eine andere Richtung geschickt worden. Mittlerweile befanden sie sich irgendwo hinter dem Dom, von wo aus es nur noch ein Katzensprung zu dem mysteriösen Gasthaus sein sollte.
»Es ist bestimmt nicht mehr weit«, sagte Magdalena und deutete auf eine breite Straße vor ihnen, über die sich steinerne Bögen spannten. »Das müssen schon die Schwibbögensein, von denen man uns erzählt hat. Dann nur noch rechts, und wir sind da.«
Unterwegs hatte die Henkerstochter kurz berichtet, was ihr Vater erlebt hatte. Die wenigen Sätze hatten ausgereicht, um den Medicus ins Grübeln zu bringen. Konnte es tatsächlich sein, dass jemand dem Henker eine Falle gestellt hatte? Und wenn ja, warum? Von Kuisls Idee, im Haus der Hofmanns nach einem Hinweis zu suchen, war Simon wenig begeistert. Ihm graute bei dem Gedanken, noch heute Nacht beim Bader einzubrechen. Was war, wenn man sie erwischte? Vermutlich würde man sie als Mittäter in die Zellen neben dem Henker sperren und gemeinsam mit ihm aufs Schafott führen! Doch der Medicus ahnte, dass er Magdalena von dieser Idee nicht mehr abbringen konnte. Wenn sich die Henkerstochter etwas in den Kopf gesetzt hatte, gab es kein Zurück mehr.
Endlich traten sie aus dem Labyrinth enger Gassen heraus und bogen rechts in eine große gepflasterte Straße, die von steinernen Bögen überspannt war. Schon bald tauchte vor ihnen ein schiefes zweistöckiges Giebelhaus auf, das sich zwischen zwei Lagerschuppen duckte und den Eindruck machte, hier schon seit Anbeginn der Zeiten zu stehen. Über dem Eingang baumelte ein rostiges, blechernes Schild, das einen Walfisch zeigte, aus dessen Maul ein Mann sprang.
»Jonas und der Wal«, sagte Simon und nickte. »Das muss es sein.«
Magdalena versuchte einen Blick durch die verrußten Butzenscheiben zu erhaschen, doch im Inneren war es trotz der Mittagszeit dunkel wie in einem Grab. »Besonders einladend sieht es ja nicht gerade aus«, murmelte sie.
»Und wenn schon.« Simon griff nach einem kleinen bronzenen Fisch, der als Türklopfer diente. »Dieser Floßmeisterscheint seine Stadt zu kennen. Offenbar hat sein Wort Gewicht, das sollten wir ausnutzen. Wir brauchen wirklich eine billige Unterkunft. Meine Ersparnisse reichen höchstens noch für ein paar Tage.« Energisch hämmerte er gegen die Tür.
Lange Zeit rührte sich nichts.
Weitere Kostenlose Bücher