Die Henkerstochter und der K�nig der Bettler
würde, wenn er den Bettler hier und jetzt auf dem Rathausplatz heilte. Ob Magdalena ihren Vater gefunden hatte oder nicht, war im Augenblick eher zweitrangig. Er versuchtealles andere auszublenden und sich nur auf den baldigen Einstich zu konzentrieren. Die Nadel war jetzt nur noch wenige Millimeter von der Pupille entfernt, das Auge des Bettlers starrte ihn an wie ein runder Vollmond. Der Medicus wusste, dass das Entfernen des Katarakts zu den schwierigsten medizinischen Eingriffen überhaupt gehörte. Auch deshalb wurde die Operation seit dem Altertum meist von reisenden Wundärzten vorgenommen, die bei möglichen Spätfolgen schon weit, weit weg waren. Simon selbst hatte erst zweimal einen solchen Eingriff erfolgreich durchgeführt. Dabei musste er mit einer Nadel seitlich in das Weiße des Augapfels hineinstechen und die getrübte Linse auf den Grund des Auges drücken. Ein Zittern nur, eine winzige falsche Bewegung, und der Patient war blind – oder starb an der darauffolgenden Entzündung.
Die Nadel stach zu, und der Bettler schrie und zuckte. Es folgte ein weiterer Stich, diesmal im anderen Auge. Hans Reiser hielt wimmernd still, sein Widerstand war gebrochen. Simon drückte die Spitze noch eine Weile auf die Pupille, damit sich die Linse nicht wieder löste. Dann zog er die Nadel zurück und taumelte nach hinten. Sein Rock war am Rücken klitschnass, Schweißperlen rollten über sein Gesicht. Erst jetzt merkte er, dass es unter den Zuschauern absolut still geworden war.
»Ich werde dir jetzt noch einen Verband anlegen«, sagte Simon mit schwacher Stimme. »Den solltest du die nächsten Tage tragen. Dann wird sich zeigen, ob …«
»Herr im Himmel!« Simons Rede wurde unterbrochen von Hans Reiser, der seine Hände vors Gesicht hielt und vor Freude laut aufschrie.
»Ich kann wieder sehen! Bei Gott, ich kann wieder sehen!«
Derin Lumpen gehüllte Bettler stolperte über den Platz und griff wild nach Passanten. Tatsächlich schien er von seiner Blindheit geheilt, auch wenn seine tapsenden Bewegungen zeigten, dass er das Augenlicht nicht gänzlich zurückgewonnen hatte. Verzückt betastete Reiser einzelne Gesichter, er fingerte nach Rockschößen und Huträndern. Die Menschen wichen angeekelt zur Seite, manche gaben dem Bettler einen groben Schubs, doch Hans Reiser ließ sich nicht entmutigen. Der Greis taumelte auf seinen Retter zu, zweimal lief er knapp an Simon vorbei, dann endlich drückte er ihn fest an die Brust.
»Du … du bist ein Zauberer!«, rief er. »Leute, seht selbst, hier steht ein Zauberer!«
»Ich … glaube nicht, dass dieses Wort das treffende ist«, flüsterte Simon. Aber Hans Reiser sprang schon wieder über den Platz und herzte gänzlich Unbekannte, während er immer wieder auf Simon zeigte. »Dieser Mann ist ein Hexer, wahrhaft ein Hexer! Glaubt mir!«
Der Medicus warf einen vorsichtigen Blick auf die Wachen, denen dieses Wort plötzlich die Möglichkeit gab, ihn trotz gelungener Operation aufzuhängen. Vielleicht reichte es ja sogar für den Scheiterhaufen?
In diesem Augenblick sah Simon, dass Magdalena durch das Portal geschlichen kam und ihm verstohlen zuwinkte. Er täuschte eine Bewegung an, rannte plötzlich in die andere Richtung und war schon bald in der Menge der Passanten verschwunden.
»Haltet den Hexer!«, erklangen hinter ihm die Rufe der Wachen. »Im Namen des Kaisers, haltet ihn!«
Simon warf einen Gemüsestand um, Kohlköpfe rollten über die Pflastersteine und brachten einen der Wachsoldaten ins Stolpern. Ein weiterer Soldat stieß mit einer Magd zusammen und befand sich bald darauf in einem Handgemengemit wütenden Passanten. Simon schlug einen weiteren Haken und lief in eine enge Gasse, die vom Rathausplatz Richtung Dom führte. Keuchend lehnte er sich an eine Hauswand und versuchte, zu Atem zu kommen. Als er sich nach seinen Habseligkeiten bückte, stellte er fluchend fest, dass er einen seiner beiden Reisesäcke verloren hatte. Darin war ein Großteil seiner Kleidung, darunter auch die neue Rheingrafenhose und der französisch geschnittene Rock! Nun, wenigstens hatte er seine Bücher und die medizinischen Instrumente retten können.
Gerade wollte Simon in das Dunkel der Gasse eintauchen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Er fuhr zusammen und drehte sich um, nur um in das grinsende Gesicht Magdalenas zu blicken.
»Hab ich nicht gesagt, dass man dich keinen Augenblick allein lassen kann?«
Die Henkerstochter drückte ihm einen Kuss auf die
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