Die Henkerstochter und der schwarze M�nch
die Steinplatte, doch die gab keinen Spaltbreit nach. Sie suchte nach einer Ritze an der Seite, in die sie ihre Finger hätte schieben können, tastete nach einem versteckten Mechanismus.
Vergeblich.
Schließlich fiel ihr Blick auf zwei handtellergroße Weihwasserbecken, die zu beiden Seiten der Grabplatte etwa inHüfthöhe angebracht waren. Zwei grinsende steinerne Totenschädel, in der Kopfmitte jeweils eingedrückt zu einer Schale. Das Weihwasser in den Schalen war gefroren, die Schädel sahen alt und verwittert aus. Magdalena betrachtete sie genauer.
Der rechte Totenschädel stand ein wenig schief, mit geneigtem Kopf sah er Magdalena neckisch grinsend von unten an.
Wie ein armer Sünder, dem mein Vater den Hals gebrochen hat, dachte sie. Magdalena griff nach dem Schädel und versuchte ihn zu drehen.
Er bewegte sich.
Knirschend klappte die schwere Steinplatte nach innen und gab den Blick frei auf eine steile, ausgetretene Steintreppe, die in die Dunkelheit führte. Magdalena hielt den Atem an und lauschte. Tief unten war das Singen von Männern zu hören, ein klagender Choral, lateinische Wortfetzen wehten zu ihr herauf.
Mors stupebit et natura, cum resurget creatura ... Deus lo vult... Confutatis maledictis, flammis acribus addictis … Deus lo vult …
Deus lo vult. Gott will es.
Da war er wieder, dieser merkwürdige lateinische Satz, von dem auch ihr Vater erzählt hatte. Der gleiche Satz, der beim Altenstadter Wirt zwischen den lateinisch sprechenden Fremden gefallen war. Der gleiche Satz, den die Meuchler in der Altenstadter Krypta gemurmelt hatten.
Gott will es …
Es war Zeit, nach unten zu gehen.
Sie stopfte den Beutel mit den Kräutern unter ihren Rock und machte sich auf den Weg. Vorsichtig, einen Schritt nach dem anderen setzend, stieg Magdalena die steile Treppe hinab. Die Stufen wanden sich um eine verwitterte Säule, das Singen kam näher und näher. An der Wand waren jetzt immer wieder eingeritzte Zeichen zu sehen, krakelig gezeichneteFische, bisweilen die Buchstaben P und X. Nischen tauchten auf, in denen flackernde Öllampen standen, die Magdalena den weiteren Weg wiesen. Sie hatte das Gefühl, dass diese Treppe viel älter war als der gesamte Dom über ihr.
Endlich war das Ende der Stufen erreicht. Ein schmaler, kuppelförmiger Gang führte auf den Gesang zu, weiter vorne war der Schein einer größeren Lichtquelle zu erkennen. Magdalena tastete sich in dem dunklen Gang nach vorne, als ihre Hand an etwas Glattes, Staubiges stieß, das eine mehlige Schicht auf ihren Fingern hinterließ. Sie zog die Hand zurück und blickte auf einen ordentlich gestapelten Haufen von Totenschädeln am Boden neben ihr. Sie hatte genau in das Auge eines der Schädel gelangt. An der rechten Wand stapelten sich Knochen, aufgetürmt bis unter die Decke. Das Singen tönte jetzt ganz nahe.
Iudex ergo cum sedebit, quidquid latet apparebit ... Deus lo vult …
Magdalena sah, dass sie das Ende des Ganges erreicht hatte. Sie kniete sich hinter die kleine Pyramide aus Schädeln und lugte von dort aus um die Ecke.
Der Anblick ließ sie erstarren.
Vor ihr befand sich ein Gewölbe von den Ausmaßen einer mittleren Kirche. Überall in die Wände waren bis zur Decke grobe Nischen gehauen, in denen Knochen und Schädel lagerten. Am Kopfende der Halle stand ein steinerner Altar, hinter dem ein verwittertes Kreuz an der Wand lehnte. Fackeln beleuchteten eine Gruppe von mindestens zwei Dutzend Männern in Mönchskutten und Kapuzen, die sich teils kniend, teils stehend um das Kreuz versammelt hatten und ihren Choral sangen. Alle trugen sie über ihren schwarzen Kutten weiße Umhänge, auf denen ebenfalls ein Kreuz zu sehen war , von gleicher Form und Farbe wie das hinter dem Altar.
Es hatte zwei Querbalken und war blutrot gestrichen.
Tuba mirum spargens sonum, per sepulcra regionum … Deus lo vult … Nach einer Ewigkeit beendeten die Männer ihren Gesang. Magdalena spürte, wie ihr die Füße einschliefen. Trotzdem verharrte sie hinter der Schädelpyramide und beobachtete, was weiter geschah. Einer der vermummten Männer trat nach vorne zum Altar und hob die Hände zum Segen. Auch er hatte wie alle anderen die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Mit einer halbkreisförmigen Bewegung wandte er sich an die Umstehenden. Seine Stimme klang laut und hallend bis zu Magdalena herüber.
»Liebe Mitbrüder«, begann er. »Ehrenwerte Bürger, Geistliche und einfache Prediger, die ihr von weit her gereist seid. Unsere
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