Die Henkerstochter und der schwarze M�nch
öffnete Bernhard Gering die mit silbernen Beschlägen verzierte Kiste. Sie war mit rotem Samt ausgeschlagen, auf der Deckelinnenseite prangte ein schlichtes Kreuz.
Am Boden der Truhe lag ein einzelnes, in helles Kalbsleder gebundenes Buch.
Mit spitzen Fingern öffnete der Abt die beiden goldenen Schnallen am Rand, dann blätterte er die brüchigen Seiten aus Pergament um, bis er in der Mitte auf eine bestimmte Stelle stieß. Simon beugte sich über die Seite. Einige der Buchstaben waren rot geschrieben, so dass sie nun im Licht der Laterne wie getrocknetes Blut leuchteten. Die anderen Lettern waren in feinen, dunkelbraunen Schnörkeln gemalt und kaum vergilbt; trotz ihres Alters konnte Simon sie gut lesen.
»Das Wessobrunner Gebet«, flüsterte er.
Abt Bernhard nickte. »Es ist viele hundert Jahre alt«, sagte er und strich über die Seite. »Ein Schatz, den wir Benediktiner hüten wie keinen zweiten. Niedergeschriebene Worte, gesprochen zu einer Zeit, als das Deutsche Reich noch ein Urwald war, bevölkert von Heiden und wilden Tieren. Ihr Klang ist wie der einer Zauberformel ... «
Er seufzte und zitierte mit geschlossenen Augen den Anfang des Gebets.
»Das erfuhr ich unter den Menschen als der Wunder größtes. Dass Erde nicht war, noch oben der Himmel, nicht Baum, noch Berg nicht war, nicht noch irgendetwas, nochdie Sonne nicht schien, noch der Mond nicht leuchtete, noch das herrliche Meer...«
Hastig überflog Simon die Zeilen, konnte aber nichts Auffälliges erkennen, das ihnen weitergeholfen hätte. Schließlich räusperte er sich und unterbrach den Monolog des Abtes.
»Ein, äh, wunderschönes Gebet, Euer Exzellenz. Wo wurde es vorher aufbewahrt?«
Abt Bernhard hielt inne und blickte ihn verwundert an. »Vorher?«
»Ja, nun, bevor es im Großen Krieg in diesem Turm gebracht wurde.«
Bernhard Gering lächelte. »Ach, das meint Ihr. Nun, in einer kleinen Kapelle im Pfarrhof. Wir haben die Schrift gerade noch in Sicherheit bringen können. Nur wenige Tage später kamen die Schweden. Sie raubten und brandschatzten, auch die Kapelle brannte vollständig ab.«
Simon musste schlucken. Auch Benedikta neben ihm sah plötzlich noch blasser aus als sonst. »Vollständig?«, fragte sie.
»Ja, vollständig. Die niedergebrannten Mauern haben wir abgetragen. Jetzt ist an dieser Stelle im Sommer ein kleines Kräutergärtlein. Aber was habt Ihr?« Abt Bernhard sah besorgt auf Simon und Benedikta. »Es war doch nur eine kleine Kapelle. Ohne Reliquien und Kirchenschätze, und das Gebet haben wir, wie gesagt, retten können. Kanntet Ihr das Kirchlein vielleicht von früher?«
Benedikta sprang Simon zur Seite. »Mein Führer hat … dort wohl als Kind öfter gebetet.« Sie wandte sich dem Abt zu. »Wurde außer dem Wessobrunner Gebet denn noch etwas aus der Kirche gerettet? Ein Bild? Eine Statue? Eine Grabplatte vielleicht?«
Der Abt schüttelte den Kopf. »Leider nein. Alles wurde zerstört. Und Grabplatten befanden sich in der Kapelle keine. Wollt Ihr nun ein wenig beten?«
Simon nickte. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Sie hatten so darauf gehofft, durch das Gebet einen Hinweis auf den Schatz zu erhalten. Aber alles, was sie vorfanden, war ein uralter, auf Pergament geschriebener Spruch, der ihnen nicht weiterhalf. War das das Ende der Suche? War das Geheimnis des Templerschatzes mit der Zerstörung der Wessobrunner Kapelle für immer begraben worden?
Noch einmal strich Simon über die Zeilen und murmelte lautlos den Vers vor sich hin.
Dass Erde nicht war, noch oben der Himmel, nicht Baum …
Simon verstummte. Sie hatten etwas übersehen. Baum …
Das Wort war im Gegensatz zu den Zeilen in der Krypta der Schlossruine nicht großgeschrieben. Sollte also vielleicht hier und nicht in Peiting ein bestimmter Baum stehen …?
Es war Benedikta, die das Schweigen unterbrach. Auch sie schien den Unterschied bemerkt zu haben.
»Gibt es in der Gegend eigentlich einen Baum, der etwas Besonderes darstellt?«, fragte sie und setzte dabei ein Gesicht auf, als wäre diese Frage in keiner Weise ungewöhnlich.
»Etwas Besonderes?« Die Miene des Abtes wurde immer verwirrter. »Wie meint Ihr ... ? «
»Ah oui, excusez-moi «, unterbrach ihn Benedikta. »Dies ist ein Gebet über die wunderbaren Kräfte der Natur. Den Himmel, Berge, Bäume ... Ich bin ein gläubiger Mensch und suche einen kraftvollen Ort für mein Gebet. Vielleicht ein Baum?«
Das Gesicht Bernhards hellte sich auf. »Ach so, natürlich.
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