Die Henkerstochter und der schwarze M�nch
Die alte Tassilolinde südöstlich des Klosters! Ein uralter Baum und von Gott gesegnet! Herzog Tassilo soll dort dereinst von den drei Quellen geträumt haben, die diesen Ort später berühmt gemacht haben. Ein vorzüglicher Ort zum Beten!«
»Wie alt ist diese Linde?«, fragte Simon.
»Bestimmt viele hundert Jahre alt. Vier ineinander verwachsene Stämme. Es gibt Leute, die halten sie für ein Symbol der vier Elemente. Die Tassilolinde ist der berühmteste Baum hier in der Gegend.«
»Euer Exzellenz«, unterbrach ihn Benedikta. »Könntet Ihr uns einen Gefallen tun?«
»Aber natürlich.«
»Würdet Ihr uns morgen früh diesen Baum zeigen? Ich glaube, dies wäre genau der richtige Ort, um mich im Morgengrauen ganz dem lieben Herrgott hinzugeben.« Sie lächelte den Abt an. »Sicherlich fällt mir dort auch ein, welche Summe ich dem Kloster letztendlich spenden möchte.«
»Unter diesen Umständen«, sagte der Abt, »werde ich dafür sorgen, dass Ihr dort morgen von niemandem gestört werdet. Schließt doch bitte auch das Kloster in Eure Fürbitten mit ein.«
Simon nickte. »Das werden wir tun. Euer Exzellenz?« »Ja, mein Sohn?«
»Dürfte ich einige der Bücher hier bis morgen früh ausleihen?«
Der Abt lächelte. »Aber sicher doch. Es freut mich, wenn sie wieder einmal gelesen werden.«
Simon raffte einen Stapel Bücher zusammen und schwankte damit die Treppe hinunter. Es würde eine lange Nacht werden.
Magdalena lag im Bauch eines Schiffes und wurde sanft hin und her geschaukelt. Wellen schlugen gegen den Rumpf, das Plätschern und das stetige Auf- und Abwiegen schläferten sie ein; sie hatte Mühe, die Augen zu öffnen. Plötzlich aber zog draußen ein Sturm auf, das Schaukeln nahm zu, bis sie in ihrem kleinen Schiff herumrollte wie ein unvertäutes Fass. Sie musste nach oben an Deck und sehen, was dort los war. Also stand sie auf.
Ihr Kopf schlug an eine Holzwand, mit einem Schmerzensschrei sank sie wieder zurück.
Der Schmerz half ihr aufzuwachen, der Traum glitt wie eine Wolke davon, und sie merkte, dass sie sich nicht auf einem Schiff, sondern im Inneren einer schmalen Holzkiste befand. Das Schaukeln rührte daher, dass die Kiste offenbar auf einem Wagen lag. Magdalena hörte das Schnauben von Rössern und ein monotones Zischen. Erst mit der Zeit erkannte sie, dass es das Schaben von Kufen über Schnee war. Es war also kein Karren, sondern ein Schlitten, der sie in der Kiste irgendwohin zog. Jetzt spürte sie auch die Kälte, die durch die Holzlatten hereinwehte. Zwischen den Ritzen drang ein Streifen Licht hindurch, zu wenig, um draußen mehr als einige vorbeihuschende Schemen zu erkennen. Ihr Kopf dröhnte, als hätte sie ein ganzes Weinfass alleine ausgetrunken.
Mit den Händen und Füßen maß Magdalena den engen Raum um sich herum ab. Schnell merkte sie, dass die Kiste genau die Größe eines Sarges hatte. War sie etwa gestorben und nun wieder aufgewacht? Brachte sie jemand zum Friedhof, um sie lebendig zu begraben?
Oder war das der Tod?
»Hilfe! Ist da jemand?« Ihre Stimme war nicht mehr als ein leises Keuchen. »Ich bin nicht tot! Holt mich hier raus!«
Der langgezogene Ruf eines Kutschers war zu hören, dann hielt der Schlitten an. Das Schaukeln hörte endlich auf, und Schritte, die im Schnee knirschten, näherten sich der Kiste. Magdalenas Herz schlug wie wild. Man hatte sie gehört, sie war gerettet! Gleich würde der Totengräber seinen Irrtum einsehen und den Sarg aufbrechen. Sie würde ihm ins Gesicht lachen und erklären, wie …
»Halt dein gottverfluchtes Maul, Henkerstochter, sonst schaufel ich dich zu! Sechs Fuß unter der Erde, so wie man’s früher mit dem liederlichen Weibsvolk gemacht hat.«
Magdalena verstummte. Sie erkannte die Stimme sofort. Es war der Mann, der ihr den Dolch in den Arm gestochen hatte. Der Mann, den die anderen Bruder Jakobus genannt hatten. Mit dem Namen kehrte die Erinnerung zurück. Der Dom, das Kreuz um den Hals des Bischofs, das unterirdische Gewölbe, die Versammlung ... An der Spitze des Dolchs musste ein Gift gewesen sein, das sie gelähmt und schließlich ohnmächtig gemacht hatte; das gleiche Gift, dem auch schon ihr Vater zum Opfer gefallen war. Dieser Bruder Jakobus schaffte sie nun offenbar fort.
Nur wohin?
»Hör zu, wir werden bald einen Posten passieren.« Die Stimme des Mannes klang jetzt etwas versöhnlicher. »Keinen Mucks, verstehst du? Keinen Laut! Ich will dich nicht töten, wir brauchen dich noch. Aber wenn es sein
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