Die Henkerstochter und der schwarze M�nch
inne und begann zu lesen. »Ich hatte recht!«, rief er schließlich, bevor seine Stimme wieder in ein Flüstern überging. »Es ist kein Bibelspruch, sondern ein Satz, in dem zwei Namen versteckt sind. Primus und Felicianus . Übersetzt lauten sie tatsächlich der Erste und der Glückliche, aber es sind eben auch zwei Heilige aus dem alten Rom. Hier!« Er tippte auf die aufgeschlagene Seite, auf der zwei nackte, gefesselte Männer zu sehen waren, die von einigen Henkersknechten auf Streckbänken gefoltert wurden und trotzdem lächelten, als würden sie gerade den Heiland erblicken.
»Primus und Felicianus waren zwei christliche Römer, die auf Befehl des Kaisers Diokletian gemartert und schließlich enthauptet wurden«, fuhr Simon aufgeregt fort. »Zuvor sollen sie laut diesem Büchlein allein durch ihre Standhaftigkeit noch Tausende Römer bekehrt haben.«
»Aber das war in Rom!«, warf Jakob Schreevogl ein. »Habt Ihr nicht eben selbst gesagt, dass sich dieser Templer statt der großen Städte absichtlich unsere Provinz ausgesucht hat? Das kann also nicht die Lösung des Rätsels sein.«
Der Medicus grinste und wedelte mit dem Brevier. »Nicht so voreilig, Euer Ehren. Primus und Felicianus wurden zwar in Rom begraben, aber irgendwann hat man ihre Überreste an einen anderen Ort gebracht, wo sie heute noch verehrt werden.«
Jakob Schreevogl war mittlerweile aufgestanden. »Und wo ist das?«, fragte er. »Nun macht es nicht so spannend!«
Simon schlug das Buch zu und stellte es zurück ins Regal. »Es ist das Benediktinerkloster Rottenbuch, nur wenige Meilen von hier.«
Der Patrizier sah ihn ungläubig an. »Rottenbuch? «
Simon nickte. »Ein Kloster, das nebenbei der Heiligen Jungfrau Maria geweiht ist. Primus und Felicianus im Schoße Mariens . Das ist die Lösung!« Er schlug sich an die Stirn. »Ich bin so dumm! Als Kind habe ich sogar mal an einer Wallfahrt zu Ehren der beiden Heiligen teilgenommen, aber ich hatte es vergessen!«
Der Patrizier lächelte. »Wie ich Euch kenne, werdet Ihr wohl nun eine weitere Wallfahrt dorthin unternehmen.«
Simon war schon an der Tür der Hausbibliothek, als er plötzlich stehen blieb. Er wirkte mit einem Mal nachdenklich. »Ich gehe erst, wenn es Clara bessergeht«, sagte er. »Euer Mädchen wiegt kein Schatz der Welt auf.«
11
D er Zustand Claras blieb auch am kommenden Tag derselbe. Sie fieberte und hustete, und Simon verabreichte ihr einen Sud aus Lindenblüten und Rosmarin, vermengt mit dem letzten Honig, den er zu Hause noch finden konnte. Wieder einmal verfluchte er sich dafür, im Sommer nicht mehr von diesem Jesuitenpulver gekauft zu haben; doch die Arznei, die der sarazenische Kaufmann feilgeboten hatte, war teuer gewesen – zu teuer für einen kleinen Schongauer Stadtmedicus, um sie in größeren Mengen zu erwerben.
Jeweils vormittags und nachmittags stattete Simon Clara Schreevogl einen Krankenbesuch ab, er horchte ihre Brust ab und sprach dem vor sich hin dämmernden Kind gut zu. Benedikta sah er in dieser Zeit kein einziges Mal. Der Medicus spürte, dass er ihr insgeheim aus dem Weg ging. Bei ihrer letzten Begegnung war irgendetwas zwischen ihnen zerbrochen. Vermutlich war es die abfällige Bemerkung der Händlerin über Magdalena gewesen, die ihn hatte aufhorchen lassen.
Eure Magdalena ist ein kleines Mädchen, das vermutlich keinen Brocken Lateinisch kann …
In diesem Moment hatte er gespürt, wie sehr er Magdalena vermisste. Was er bis vor kurzem noch für eine Schwäche der Henkerstochter gehalten hatte – ihr aufbrausendes Temperament, ihre mangelhafte Erziehung, ihre Bauernschläue, die so unendlich weit entfernt von der französischenEtikette und Finesse einer Benedikta war –, all das machte Magdalena nun wieder unvergleichlich und damit einzigartig.
Simons Gedanken an sie wurden wie schon so oft von einer langen, rasselnden Hustenattacke Claras unterbrochen. Der Brustkorb des Mädchens hob und senkte sich, sie spuckte zähen, grünen Schleim. Simon war erleichtert, als er sah, dass der Auswurf nicht rot eingefärbt war. Roter Schleim, das wusste er, bedeutete in den meisten Fällen den sicheren Tod.
Während er Clara die Hand hielt und den Hustenanfall abwartete, überlegte der Medicus, warum er sich gerade um dieses eine Mädchen so teilnahmsvoll kümmerte, wo doch in Schongau zurzeit beinahe jeden Tag Leute in ihren Betten starben. Aber mit Clara verband ihn eben eine väterliche Liebe, gewachsen in den Abenteuern, die sie vor
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