Die Henkerstochter und der schwarze M�nch
oder nicht«, sagte er ruhig. »Ich hab’s versucht, doch die hohen Herren wollen dich nun mal schreien und jammern sehen. Sei’s drum ... « Er trat jetzt ganz nahe an Scheller heran. »Aber wir können diesen Pfeffersäcken immer noch ein Schnippchen schlagen«, flüsterte er so leise, dass ihn keiner der Umstehenden hören konnte.
Hans Scheller sah ihn ungläubig an. »Was hast du vor?«
Jakob Kuisl blickte sich um, ob jemand lauschte. Doch die anderen Räuber waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt,und der Büttel Johannes hatte es vorgezogen, draußen zu warten. Schließlich zog der Henker ein kleines Leinensäckchen unter seinem Mantel hervor. Als er es öffnete, rollte eine einzige braune Kugel in seine schrundige Hand, eine Pille, nicht größer als eine Kindermurmel.
»Ein Biss, und du bist beim lieben Herrgott«, sagte Kuisl. Er hielt die Kugel hoch wie eine wertvolle Perle. »Ich hab sie extra für dich gedreht. Du wirst keine Schmerzen haben. Steck sie in den Mund, und wenn ich zuschlag, dann beiß drauf.«
Hans Scheller nahm die Pille mit spitzen Fingern entgegen und sah sie sich genauer an. »Keine Schmerzen, sagst du?«
Kuisl schüttelte den Kopf. »Keine Schmerzen. Verlass dich drauf, auf Schmerzen versteh ich mich.«
»Und was ist mit dem Spektakel?«, flüsterte Scheller. »Die Leut werden enttäuscht sein. Ich hab davon gehört, dass sie den Henker manchmal selbst hängen, wenn’s nicht so läuft wie geplant. Sie werden glauben, du hättest deine Arbeit nicht anständig gemacht.«
»Das lass meine Sorge sein, Scheller. Nimm das Gift nur nicht jetzt schon. Die Ratsherren könnten sich sonst an den anderen rächen wollen. Nachher muss ich noch den Jungen rädern.«
Der Räuberhauptmann schwieg lange, bevor er sich wieder an den Scharfrichter wandte.
»Dann stimmt es also, was man über dich sagt, Kuisl.« »Was?«
»Dass du ein guter Henker bist.«
»Ich bin ein Henker, aber kein Mörder. Wir sehen uns am Samstag.«
Jakob Kuisl wandte sich um und verließ die Fronfeste. Noch lange rieb Hans Scheller die kleine Pille zwischen den Fingern. Er schloss die Augen und bereitete sich auf seine Reise ins Dunkle vor.
Sie fanden das Heiligenbrevier ganz hinten im Regal, zwischen den Werken Platons und einem zerfledderten Bauernkalender , von dem Jakob Schreevogl sich nicht erklären konnte, wie er in sein Haus geraten war. Vermutlich hatte ihn seine Frau bei einem umherziehenden Devotionalienhändler erworben, ebenso wie das Gotteslob, die acht Pfund schwere Hausbibel und eben das Heiligenbüchlein.
Mit dem Brevier in der Hand, erzählte Simon dem Patrizier in aller Kürze, was er und der Henker in der Krypta gefunden hatten; er berichtete von den Rätseln, von seinem Gefühl, ständig beobachtet zu werden, und von dem letzten Fund gemeinsam mit Benedikta an der Tassilolinde nahe Wessobrunn.
»Wir sind fest davon überzeugt, dass uns all diese Rätsel zu einem Schatz der Templer führen!«, beendete Simon seinen Bericht, während er die übrigen Bücher wieder in die Regale der Hausbibliothek räumte. »Einen Schatz, den der deutsche Tempelmeister Friedrich Wildgraf damals absichtlich fern der großen Städte versteckt hat. Nicht in Paris, nicht in Rom, nur hier in der bayerischen Provinz glaubte er wohl, dass der französische König den Schatz niemals finden würde. Die Rätsel sind so gewählt, dass sie im Grunde nur Einheimische lösen können!«
Jakob Schreevogl hatte sich in der Zwischenzeit auf die Kante des Tisches gesetzt und folgte immer aufmerksamer den Ausführungen des Medicus.
» Gut möglich, dass Friedrich Wildgraf sein Wissen an seine Söhne und Enkel hier in Schongau weitergegeben hat«, fuhr Simon fort. »Vermutlich ist diese Linie irgendwann ausgestorben, und damit ging auch das Wissen um den Schatz und um die Rätsel verloren.«
»Und wie lautet nun das nächste Rätsel?«, fragte Jakob Schreevogl.
Simon sah schnell aus dem Fenster, ob sie jemand beobachtete. Erst dann sprach er leise weiter. »Es lautet: ›In gre mioMariae eris primus et felicianus‹«, flüsterte der Medicus. »Also übersetzt in etwa: ›Im Schoße Mariens wirst du der Erste und auch ein Glücklicher sein.‹ Ich habe lange geglaubt, dass es sich um einen frommen Bibelspruch handelt.«
»Und was ist es eigentlich?«
»Das sage ich Euch, wenn ich in diesem Büchlein die richtige Stelle gefunden habe.« Simon begann, in dem Heligenbrevier zu blättern. Bei einer bestimmten Seite hielt er
Weitere Kostenlose Bücher