Die Henkerstochter und der schwarze M�nch
Der Blick des Händlers glitt den Baum empor und verharrte etwa in halber Höhe. Die Zweige dort bewegten sich, als wären sie lebendig. Sie schwankten hin und her, obwohl es fast windstill war.
Viel zu spät sah er die Augen.
Auf halber Höhe der Tanne glänzten sie weiß in einem sonst aschfarbenen Gesicht. Direkt unterhalb davon war eine Armbrust auf den Händler gerichtet. Leonhard Weyer hörte ein leises Klicken, dann spürte er einen flammenden Schmerz in der rechten Schulter. Er sank vom Pferd und griff instinktiv nach der Pistole, fand sie aber nicht. Um ihn herum brach das Chaos aus, Rufe gellten durch die Dämmerung. Er hörte Schüsse krachen und das Ächzen von kämpfenden Männern. Ein schriller Todesschrei ertönte, der in ein Gurgeln überging. Neben ihm fiel jemand krachend zu Boden. Als er zur Seite blickte, sah er in die angstgeweiteten Augen von Joseph, seinem ersten Knecht. Aus einem breiten Schnitt in der Kehle ergoss sich ein Schwall von Blut auf Weyers wertvollen Pelzmantel. Der Händler blickte ungläubig auf das Stechen, Hauen und Morden. Wie war das möglich?
Wer, in Gottes Namen, konnte wissen, dass wir die alte Straße nehmen?
Leonhard Weyer schob die Leiche neben sich beiseite und nestelte an seinem Mantel. Der Pelz war so verflucht schwer, dass er den Schlitz nicht fand, durch den er hineingreifenkonnte. Wo war nur die verdammte Pistole? Endlich bekam er sie zu fassen, der kalte Stahl glitt durch die Öffnung nach außen. Weyer ignorierte den Schmerz in seiner Schulter und richtete sich vorsichtig auf. Im Sitzen sah er, dass zwei seiner Knechte bereits blutend am Boden lagen. Ein weiterer rang mit drei Räubern, von denen einer gerade mit einer Axt ausholte und den Knecht in der Halsbeuge traf. Aus dem Augenwinkel bemerkte Weyer einen Schatten, der sich ihm von links näherte. Er fuhr herum und sah einen Mann auf sich zurennen. Um die Beine und Arme hatte er Tannenzweige gebunden, sein Gesicht war mit Kohle schwarz angemalt, in seiner rechten Hand blitzte eine polierte Pistole. Er war von kleiner Statur und bewegte sich so geschmeidig wie eine Katze. Trotz der Tarnung hatte Weyer das Gefühl, den Mann schon einmal gesehen zu haben.
Nur wo?
Für weiteres Nachdenken war jetzt keine Zeit mehr. Weyer richtete seine geladene Waffe auf den Banditen und drückte ab.
Es klickte. Sonst nichts.
Verdammt, das Pulver ist nass geworden, dachte Leonhard Weyer noch. Gott, hilf mir!
Die Gestalt näherte sich langsam, fast genüsslich, und hielt den Lauf ihrer Pistole direkt an Weyers Stirn. Kurz bevor der Hahn niederfuhr und das Schießpulver zum Explodieren brachte, fiel Leonhard Weyer endlich ein, woher er die Gestalt kannte.
War das möglich? Aber wieso …
Die plötzliche Erkenntnis nützte ihm nichts mehr. Die Welt zerstieb in tausend Sterne, und dahinter war unendliche Schwärze.
Sie trafen sich noch vor dem Morgengrauen am Marktplatz, Schemen in der Dunkelheit, die erst langsam Konturen bekamen, als Jakob Kuisl näher kam.
Der Henker kannte die meisten von ihnen. Der Torwächter Jakob Rauch war darunter und auch der kräftige Schmied Georg Krönauer. Sogar der greise Andre Wiedemann hatte sich angeschlossen. Der Kriegsveteran stützte sich müde auf seine Muskete und musterte argwöhnisch die Neuankömmlinge, die in dicken Mänteln auf den Platz schlurften; gefrorener Atemhauch drang wie Rauch aus ihren Mündern. Weiter hinten erblickte Jakob Kuisl die Söhne der Ratsherren Semer und Hardenberg. Sie standen zusammen mit Hans Berchtholdt, dessen Vater für die Bäcker im Äußeren Rat saß. Tuschelnd deuteten sie auf den Henker und spielten gelangweilt mit ihren funkelnden Säbeln. Ab und zu drang aus der Gruppe Gelächter zu Kuisl herüber, der sich jetzt in die Mitte des Kreises begab.
Knapp zwei Dutzend Männer hatten sich eingefunden. Um den Scharfrichter herum standen Ratsherren, Wirte und Handwerker, allesamt ehrbare Bürger, die ihn misstrauisch bis feindselig anblickten, als warteten sie nur darauf, dass er ihnen irgendeinen Anlass zum Widerspruch gab. In diesem Moment wurde Jakob Kuisl die ganze Sinnlosigkeit von Lechners Plan bewusst. Er war nichts weiter als ein ehrloser Henker, ein Folterknecht und Abdecker. Wie sollte er diesen Leuten Befehle erteilen?
Gerade wollte er sich räuspern, als hinter ihm aus dem Nebel eine Stimme erklang.
»Meine Herren, ich habe Euch allen eine traurige Mitteilung zu machen.«
Johann Lechner war wie ein Geist aus der Dämmerung
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