Die Herren der Unterwelt 01 - Schwarze Nacht
ihr nicht wehtun – dessen war sie sich nun sicher, auch wenn sie es immer noch nicht richtig fassen konnte. Dieser grobe Mann hatte nicht nur die Stimmen zum Schweigen gebracht, sondern sich auch aufopfernd um sie gekümmert. Er war nicht weggelaufen, als sie sich übergeben hatte, so wie es wohl die meisten getan hätten, sondern er war bei ihr geblieben und hatte sie festgehalten, als wäre sie besonders kostbar.
Doch so gut er sie auch behandelt haben mochte, Ashlyn wusste nicht, welches Leid er anderen zufügen würde. Sie wusste nur, dass er den Anschein erweckte, als beginge er jede dunkle und böse Tat mit Genugtuung. Doch sie würde es auf keinen Fall zulassen, dass er Danika etwas antat. Immerhin hatte sie ihr ebenfalls geholfen.
„Ashlyn“, seufzte er.
„Maddox.“
Seine gespreizte Hand lag ruhig auf ihrem Bauch. Zum Glück nahm er sie nicht weg. Sie hätte für immer und ewig in seinen Armen liegen können. Bisher hatte ihr niemand, nicht einmal McIntosh, das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein.
An ihre Eltern hatte sie nur vage Erinnerungen. Auch von ihnen war sie nicht sonderlich verwöhnt worden. Im Gegenteil: Ihre Eltern waren überglücklich gewesen, als sie ihr weinendes, schreiendes Mädchen endlich los waren. Ein kleines Mädchen, das immerzu verlangte, dass die Stimmen ruhig sein sollen. In ihrer Nähe konnte niemand schlafen, arbeiten oder sich ausruhen.
Sie erinnerte sich noch deutlich an den Tag, als sie von ihrer Entscheidung, sie wegzugeben, erfahren hatte. Damals verstand sie es nicht. Sie ging in ihr Schlafzimmer und konnte das ganze Gespräch hören.
Ich kann mich nicht länger um sie kümmern. Das ist zu viel für mich. Ich kann nicht essen, ich kann nicht schlafen, ich kann noch nicht mal denken.
Ich weiß, dass wir sie nicht einfach aufgeben können, aber ich kann nicht mehr, verdammt noch mal. Sie hört niemals auf zu weinen.
Ich will wieder ein normales Leben führen, verstehst du? So wie vor ihrer Geburt. Pause. Ich habe ein bisschen recherchiert und eine Organisation gefunden, die ihr vielleicht helfen kann. Ich … habe dort angerufen. Sie wollen sich mit ihr treffen. Vielleicht, ich weiß nicht, aber vielleicht können sie ihr geben, was wir ihr nicht geben können.
Einen Tag nach ihrem fünften Geburtstag schickten sie sie in das Institut, wo sie als „das Medium“ bekannt wurde. Nadeln, Elektroden und Monitore wurden ihre täglichen Begleiter, ganz zu schweigen von Angst, Einsamkeit und Schmerz. Der Tag, an dem die Mitarbeiter sie als „Ashlyn“ wahrnahmen, kam drei Jahre später, als sie wussten, wie sie ihre Begabung zu ihrem Vorteil nutzen konnten.
An jenem Tag trat McIntosh in ihr Leben.
Er war ein ambitionierter, junger Parapsychologe, der dank seines Vorstellungsvermögens, seines Enthusiasmus’ und seiner leidenschaftlichen Arbeitsweise schnell die Karriereleiter emporkletterte. Er begleitete sie zu jedem Ort, an den die Stimmen sie führten, und während sie zuhörte, schrieb er alles auf, was sie vor sich hin murmelte.
Danach recherchierte er die Notizen und berichtete ihr von den Ergebnissen – wie einmal, als sie ein Gespräch über einen Vampir gehört hatte, der eine ganze Stadt leersaugen wollte. Das Institut spürte ihn auf, hinderte ihn an seinem Vorhaben und untersuchte ihn. In Momenten wie diesem hatte sie sich tatsächlich genauso besonders und begabt gefühlt wie die Figuren, von denen sie damals jede Nacht gelesen hatte.
„Ashlyn“, wiederholte Maddox. Ihre Blicke trafen sich, und in seinen Augen tobte ein fliederfarbenes Feuer. „Sag noch einmal meinen Namen.“
„Maddox.“
Für einen Sekundenbruchteil schloss er die Augen und spürte pures Entzücken. „Es gefällt mir, wenn du ihn aussprichst.“
Und ihr gefiel es, dass er sich an so etwas Einfachem erfreuen konnte. Ein Schauder jagte ihr über den Rücken. Im nächsten Augenblick veränderte sich Maddox’ Miene. Der verzückte Gesichtsausdruck wich, als traute er seinen Gefühlen nicht.
„Danika wird …“
„… mir etwas Wasser holen“, fiel Ashlyn ihm ins Wort. „Für die Tabletten.“
„Ja, natürlich.“ Danika hob das leere Glas vom Fußboden auf und stolperte ins Badezimmer. Ashlyn hörte das Geräusch von fließendem Wasser, und im nächsten Moment stand Danika neben ihr und hielt ihr das Glas hin.
Wieder griff Maddox ein. Er warf Danika einen misstrauischen Blick zu, bevor er Ashlyns Kopf anhob und ihr das Glas an die Lippen setzte. Sie warf sich
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