Die Herren der Unterwelt 02 - Schwarzer Kuss
wurde. Ja, sie hatte all diese Dinge getan. Als sie am Anfang auf die Erde gekommen war, hatte sie nicht gewusst, wie sie ihre rebellische Ader unter Kontrolle bringen sollte. Die Götter waren in der Lage gewesen, sich davor zu schützen, aber die Menschen konnten das nicht. Außerdem war sie durch die vielen Jahre im Gefängnis wild und unberechenbar geworden. Ein einfacher Satz von ihr – Du willst doch nicht etwa zulassen, dass dein Bruder in so einem Ton mit dir redet, oder? – konnte blutige Fehden zwischen Clans provozieren. Wenn sie vor Gericht zitiert wurde – manchmal lachte sie über die dort herrschenden Regeln und Vorgehensweisen –, konnte es passieren, dass die adeligen Richter es vorzogen, ihren König zu ermorden anstatt Recht zu sprechen.
Was die Feuer anging – nun, eine innere Stimme hatte ihr befohlen, aus Versehen die Fackel „fallenzulassen“ und den Flammen dabei zuzusehen, wie sie sich tanzend ausbreiteten. Bei den Diebstählen war es dasselbe gewesen. Die Stimme hatte gesagte: Greif zu. Keiner wird es merken.
Schließlich hatte sie gelernt, dass wenn sie ihrem Bedürfnis nach Chaos in den kleinen Dingen nachgab – Diebstahl, Notlügen und hin und wieder eine Schlägerei auf der Straße –, dann konnten schlimmere Katastrophen abgewendet werden.
„Ich habe, was dich angeht, auch meine Hausaufgaben gemacht,“, sagte sie leise. „Hast du nicht auch einmal ganze Städte zerstört und Unschuldige umgebracht?“
Jetzt war es Reyes, der rot wurde.
„Du bist nicht mehr derselbe Mann, der du einmal warst. Genauso wenig wie ich dieselbe bin, die ich einmal …“ Bevor sie den Satz zu Ende bringen konnte, erhob sich plötzlich eine Brise und pfiff ihr kalt um die Ohren. Anya blinzelte und war nur einen kurzen Moment lang abgelenkt. „Verdammt!“, rief sie, denn sie wusste, was nun kommen würde.
Natürlich hielten die Krieger inne, als für sie die Zeit aufhörte zu existieren. Eine Macht, die größer war als sie, übernahm die Herrschaft über die Welt um sie herum. Auch Lucien, der ihr Gespräch mit Reyes aufmerksam verfolgt hatte, erstarrte zu Stein.
Und selbst Anya verwandelte sich.
Oh nein, nein, nein, dachte sie und mit diesen Worten befreite sie sich aus ihrem unsichtbaren Gefängnis. Nichts und niemand würde sie je wieder einsperren können. Dafür hatte ihr Vater gesorgt.
Anya ging hinüber zu Lucien, um ihn zu befreien. Warum sie das tat, wusste sie nicht. Schließlich hatte er all diese schrecklichen Dinge über sie gesagt. Aber der Wind legte sich so schnell, wie er aufgekommen war. Ihr Mund war trocken, und sie spürte, wie ihr Herz unruhig schlug. Cronus, der vor wenigen Monaten den himmlischen Thron bestiegen und neue Regeln, neue Wünsche und neue Strafen mitgebracht hatte, war kurz davor, sein Ziel zu erreichen.
Er hatte sie gefunden.
Na toll! Als ein leuchtend blaues Licht vor ihr erschien und die Dunkelheit verdrängte, löste sie sich in Rauch auf, um der unglaublichen Kraft, die es verströmte, zu entkommen. Irgendwie bedauerte sie es, Lucien zurücklassen zu müssen, aber sie nahm die Erinnerung daran, wie sein Kuss schmeckte, mit auf ihre Reise.
2. KAPITEL
Ein schwarzer Nebel schien sich über Lucien zu senken, und seine Gedanken kreisten nur noch um Anya. Er hatte sich gerade mit ihr unterhalten, hatte dabei versucht zu vergessen, wie perfekt sich ihr Körper an seinen schmiegte. Sein Begehren war beinah übermächtig gewesen. Ihm war bewusst, dass er alle, die er kannte, verraten hätte, um noch eine Weile mit ihr zusammen sein zu dürfen und sie in den Armen zu halten. Die Zeit, die er mit ihr verbracht hatte, war viel zu kurz gewesen.
Noch nie zuvor hatte ihn ein Kuss so tief ergriffen.
Irgendetwas konnte mit ihm nicht stimmen.
Warum sonst hatte es ihn fast umgebracht zu sagen, dass Anya keine Bedeutung für ihn habe, dass sie ein Nichts sei? Aber er hatte es aussprechen müssen. Zu ihrem, aber auch zu seinem eigenen Wohl. Sein Bedürfnis, mit ihr zusammen zu sein, war gefährlich. Und ihm zu folgen, konnte tödlich enden. Außerdem setzte er seine legendäre Selbstbeherrschung aufs Spiel.
Selbstbeherrschung. Wenn er in der Lage gewesen wäre, sich zu bewegen, hätte er verächtlich geschnaubt. Es war offensichtlich, dass er keine Kontrolle hatte, was diese Frau anging.
Warum hatte sie so getan, als würde sie ihn begehren? Warum hatte sie ihn so verzweifelt geküsst? Frauen begehrten ihn einfach nicht auf diese Art und Weise. Zumindest
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