Die Herren der Unterwelt 03 - Schwarze Lust
sich selbst, auf die Götter, auf seinen Dämon. Auf Reyes. Er hätte mich umbringen sollen. Aber jetzt ist es zu spät. Jetzt will ich leben. Jetzt will ich das Blut dieser Frauen schmecken.
Die Dunkelheit hätte ihn komplett eingehüllt, hätte er das Zepter nicht schon längst seinem Dämon übergeben. Seine Augen glühten hellrot und sandten leuchtende Strahlen aus, wohin er auch blickte. Schlamm und Felsen umgaben ihn. Er war so tief unter der Erde eingekerkert, dass er die Schreie der Verdammten hören und den Geruch nach Schwefel und verfaulendem Fleisch riechen konnte, der vom Hölleneingang herüberwehte. Er hatte gedacht, Lucien wäre der einzige Krieger, der Zugang zum Jenseits hätte, aber auf Reyes traf das offensichtlich auch zu.
Zorn, Aerons dämonischer Begleiter, schäumte in seinem Mund und nagte an den Rändern seines Geistes, ganz wild darauf, diesen hoffnungslosen Ort zu verlassen und endlich zuzuschlagen.
Ist mir zu dicht dran an zu Hause, rief sein Dämon. Ich will nicht mehr zurück.
„Nein, du gehst nicht mehr zurück.“
Aeron und sein Dämon waren zu einem einzigen Wesen verschmolzen, waren zwei Hälften eines Ganzen, eine unvollständig ohne die andere, nicht überlebensfähig. Und Aeron war nicht länger bereit zu sterben. Dass er sich den Tod gewünscht hatte, war nichts als ein vorübergehender Anfall von Verrücktheit gewesen. Das wusste er jetzt, und er akzeptierte es. Er durfte an den eigenen Tod nicht eher denken, als bis das Blut dieser vier Frauen an seinen Händen klebte und seinen Mund füllte.
Mallory, Tinka, Ginger und Danika.
Er lächelte, während er ihren Tod quasi schon auf der Zunge spürte. „Schneide ihnen die Kehle durch“, hatte Kronos, der König der Götter, befohlen. „Weiche ihnen nicht von der Seite, bis ihre Herzen aufhören zu schlagen und ihre Lungen erschlaffen.“ Am Anfang hatte Aeron noch überlegt, ob er sich diesem Befehl widersetzen sollte, weil er die Frauen für unschuldig hielt. Aber dann kamen ihm immer mehr Zweifel daran, und irgendwann fand er den Gedanken, den Frauen das Leben zu schenken, ganz und gar abwegig, ja geradezu empörend.
„Bald“, gelobte er sich selbst, zitternd vor Vorfreude.
Dabei hatte er erst kürzlich getötet. Ganz tief in seinem Innern wusste er das, aber seine Erinnerungen waren verschwommen. Alles, woran er sich entsinnen konnte, war das Bild einer alten Frau, die mit blutverschmierten Schläfen auf dem kalten Boden lag. Sie hatte Tränen in den Augen und Schnittwunden im rechten Arm.
„Tu mir nicht weh“, bettelte sie, „bitte, tu mir nicht weh.“
Mit der einen Hand hielt Aeron einen Dolch umklammert, seine andere Hand hatte sich in eine Klaue mit spitzen, tödlichen Krallen verwandelt. Er holte aus …
Und dann verschwamm die Erinnerung vollends, wie jedes Mal. Was war danach passiert? Was hatte er getan? Er war sich nicht sicher. Seine einzige Gewissheit war, dass er ganz bestimmt nicht vor dem Töten zurückgeschreckt wäre. Er hätte sie nicht verschont. Niemals.
Ich will raus. Ich will nach oben. Ich will meine Flügel ausbreiten und fliegen.
„Ich weiß.“ Aeron zerrte an den Ketten. Sie rasselten und schnitten noch tiefer in seine ohnehin schon blutigen Handgelenke, aber sie lockerten sich nicht. Wütend bleckte er die Zähne. Dieses Arschloch von Reyes!
Verdammter Schmerz.
Ebenso wenig wie an das, was mit der alten Frau passiert war, konnte sich Aeron daran erinnern, wie Reyes ihn überwältigt und hierher geschafft hatte. Er wusste nur, dass es ihm irgendwie gelungen sein musste. Lediglich Reyes’ gequältes „Verzeih mir“ klang ihm noch sehr präzise in den Ohren.
Es waren dieselben Worte, die Aeron immer murmelte, wenn er am Stadtrand von Budapest stand und die Menschen beobachtete, erstaunt, wie unbekümmert und sorglos sie durch den Tag spazierten, obwohl sie sich ihrer natürlichen Schwäche und Sterblichkeit doch eigentlich bewusst sein müssten. Denjenigen, die durch seine Hand starben, schickte er diese Worte hinterher.
Hin und wieder, wenn Zorn sich Menschen herausgepickt hatte, die eine besondere Bestrafung verdienten, war Aeron in einen regelrechten Blutrausch verfallen. Bei Vergewaltigern und Kinderschändern, zum Beispiel. Oder bei Mördern. Solchen wie mir. Doch es gab auch Opfer, die nicht verdienten, was er ihnen antat. Wie die vier Frauen, zum Beispiel.
Er schaute finster drein. Emotionen wie Reue und Mitleid waren ihm jetzt, in seinem wirren Gefühlszustand,
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