Die Herren der Unterwelt 04 - Schwarzes Flüstern
benutzen definitiv die alte Sprache“, sagte sie. „Aber sie haben auch eigene Zeichen hinzugefügt, und ich habe Probleme, bestimmte Wörter zu entziffern. Das da bedeutet ‚dunkel‘, das hier ‚Macht‘ und dieses … ‚hilflos‘, glaube ich.“
„Ich will jetzt nicht gehen“, sagte Gideon, der plötzlich ein Kribbeln verspürte, das ihm die Wirbelsäule entlanglief. Eine Warnung. Ganz in ihrer Nähe lauerte die Gefahr.
Reyes seufzte. „Die Lügerei geht mir allmählich schwer auf die Nerven.“
„Das ist mir nicht egal. Ehrlich nicht“, erwiderte Gideon trocken. „Mein Herz blutet für dich. Und nur damit du es weißt: Ich kann genauso gut leben, ohne zu lügen, wie du, ohne dich zu schneiden.“
Noch ein Seufzer. Dann sagte Reyes: „Tut mir leid. Das hätte ich nicht sagen sollen. Lüg ruhig so viel wie du willst.“
„Das werde ich nicht.“
Strider lachte schallend und klopfte ihm auf die Schulter.
Gideon wusste, dass er anstrengend war. Aber er konnte nicht anders.
Anya, die beim Lesen die ganze Zeit über unverständlich vor sich hin gemurmelt hatte, rang auf einmal nach Atem. „Oh meine Götter.“ Einen Schritt, noch einen, so entfernte sie sich rückwärts von der Wand. Sie zitterte, und in all den Wochen, die Gideon sie nun kannte, in all den Schlachten, in denen sie Seite an Seite gekämpft hatten, hatte er die mutige Frau noch nie zittern sehen. „Beam uns weg, Lucien. Sofort. Uns alle, wenn möglich.“
Lucien zögerte keine Sekunde und verschwendete auch keine Zeit damit, nach dem Warum zu fragen. Mit raschen Schritten ging er zu ihr hinüber und schlang die Arme um sie. Ohne Frage wollte er sie zuerst rüberbeamen – denn, ob sie es wusste oder nicht, er konnte nicht mehr Personen transportieren, als er berühren konnte. Doch es war zu spät. Dunkle Metallblenden fielen über die Fenster und schotteten jedweden Lichtstrahl ab.
Er hörte, wie sich am Ende des Flurs die gleichen Blenden über die Fenster legten.
Gideon wirbelte herum und umklammerte seine Dolche. Er wollte um sich schlagen, aber es war so dunkel geworden, dass er die Hand nicht vor Augen sehen konnte, geschweige denn seine Freunde. Und er wollte ja nicht die Falschen verletzen.
„Lucien“, rief Anya.
„Ich bin hier, Baby, aber ich kann uns nicht wegbeamen. Anscheinend kann ich meinen Körper nicht mehr entmaterialisieren.“ Lucien hatte noch nie so grimmig geklungen. „Es ist, als würde irgendein magnetischer Schild meinen Geist in meinem Körper einsperren.“
„So ist es auch“, meinte Anya. „Das ist der Zauber. Ich habe den Rest aktiviert, indem ich den Spruch laut vorgelesen habe.“
Eine seltsame Pause entstand, in der die Krieger Anyas Worte erst mal verarbeiten mussten. In Gideon drang die Erkenntnis durch, sodass sich ihm die Kehle zuzuschnüren drohte.
„Was bedeuten die Formen denn?“, fragte Strider schließlich.
„Das meiste davon ist ein Zauberspruch, der uns im Dunkeln einschließt – machtlos und hilflos. Aber die letzte Zeile ist eine Botschaft für euch alle. Da steht: Willkommen in der Hölle, Herren der Unterwelt. Ihr werdet hierbleiben, bis ihr sterbt.“
22. KAPITEL
M it der ersten Frau, die Aeron für Paris gefunden hatte, hatte der Krieger schon mal geschlafen. Nicht dass Paris sie wiedererkannt hätte. Seine fehlende körperliche Reaktion hatte ihn verraten. Also war sie zurück in die Stadt gegangen. Seit Paris von seinem Dämon besessen war, war es nur einmal vorgekommen, dass er bei derselben Frau zweimal hart geworden war. Und zwar bei der Frau, die gestorben war und nicht wiedergeboren werden konnte. Meinetwegen.
Die zweite Frau, die Aeron für seinen Freund ausfindig gemacht hatte, war ebenfalls ein Nogo gewesen, und zwar aus demselben Grund. Die dritte war eine Touristin, neu in der Stadt, und ihr Weg hatte glücklicherweise noch nie den des Kriegers gekreuzt. Aeron hatte sie direkt aus ihrem Hotelzimmer entführt. Er hatte gewartet, bis sie geschlafen hatte, damit sein tätowiertes Gesicht und die unmenschlichen Flügel ihr keine Angst einjagten. Sie war neben Paris aufgewacht, und als sie in sein hübsches Gesicht gesehen hatte, war sie für den Ritt ihres Lebens auf ihn geklettert.
Heute flog Aeron seinen Freund in die Stadt. Mit dem Hin-und-herFliegen von Frauen war jetzt Schluss. Das war pure Zeitverschwendung, fand Aeron. Stattdessen konnte Paris sich jetzt eine Frau aussuchen, die er wollte, und Aeron konnte sie ihm schnell und effizient bringen.
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