Die Herren der Unterwelt 04 - Schwarzes Flüstern
gesunden Hand gehalten hatte, fiel und rutschte außer Reichweite. Er hatte es doch bessergewusst. Wenn er seine wahren Emotionen zeigte, bedeutete das zwangsläufig seinen Untergang. Deshalb hatte er gelernt, sämtliche Gefühle hinter einer dicken Wand aus Sarkasmus zu verstecken. Idiot! Jetzt hat Stefano dich besiegt. Dein Feind ist im Vorteil. Er kann hereinkommen, dich packen, dich schlagen, dir Arme und Beine abschneiden, und es gibt absolut nichts, was du dagegen tun kannst.
„Hasse … dich …“, stieß er hervor. Zum Teufel, er hatte bereits die Wahrheit gesagt. Warum nicht gleich noch mal? Sagen, was er schon so lange hatte sagen wollen. „Ich hasse dich aus tiefstem Herzen.“
Wieder schrie der Dämon. Schrie und schrie und schrie. Wieder zerriss ihn der Schmerz.
Er öffnete den Mund, um noch eine Wahrheit auszusprechen.
„Lü…ügt“, stammelte Amun. „Er … lügt … Sabin lebt.“
Das waren die ersten Worte, die der Hüter der Geheimnisse seit Jahrhunderten sprach. Seine Stimme war rau, als hätte man seine Stimmbänder mit Schmirgelpapier bearbeitet und durch einen Schredder gejagt. Jedes Wort war wie Salz in einer Wunde.
„Das weißt du doch gar nicht“, polterte Stefano. „Du warst ja gar nicht da. Er ist tot, das schwöre ich euch.“
Gideon beruhigte sich. Trotz der Qualen und seines elenden Zustandes beruhigte er sich. Stefano hatte ihn angelogen. Er hatte ihn verdammt noch mal angelogen, und er hatte ihm geglaubt. Gideon, der eine Lüge auf zehn Meilen gegen den Wind riechen konnte. Er hatte im Laufe seines Lebens schon so viele Lügen erzählt, dass ihre Enthüllung für ihn so natürlich war wie das Atmen.
Amun brüllte und fiel neben Gideon auf die Knie. Es schien, als hätten sich bei ihm die Schleusen geöffnet – zuerst war es nur ein Wort, dann ein Satz, und dann rauschte eine Geschichte nach der anderen über die Lippen des Kriegers, und jede wurde mit der Stimme ihres ursprünglichen Erzählers wiedergegeben. Er sprach von Mord, Vergewaltigung und Missbrauch jeglicher Art. Er sprach von Eifersucht, Habgier und Untreue. Von Inzest, Selbstmord und Depression.
Keines der Verbrechen hatte er selbst begangen. Sie stammten von den Menschen, denen er über die Jahre begegnet war, von den Jägern, aus denen er die Erinnerungen gesaugt hatte. Doch die Bilder waren so deutlich, als hätte er es selbst erlebt.
Amun kniff fest die Augen zusammen, rieb sich die Schläfen, krümmte sich, verzog das Gesicht und spie noch mehr von seinem Gift. „Er hat mich nicht mehr geliebt, obwohl ich alles für ihn getan habe.“ Seine Stimme war hoch, wie die einer Frau. Gideon meinte, ein Keuchen über die Lautsprecher zu vernehmen, doch er war sich nicht sicher. „Ich habe für ihn gekocht und geputzt und mit ihm geschlafen, auch wenn ich zu müde war. Und alles, was ihn interessiert hat, war sein heißgeliebter Krieg. Aber Zeit, über unsere Nachbarshure drüberzusteigen, hat er noch gefunden. Er hat mich wie Dreck behandelt!“
„Wie machst du das mit der Stimme? Das ist Darlas Stimme. Wie machst du das, verdammt noch mal?“, rief Stefano. Er erhielt keine Antwort, sondern nur noch mehr von Darlas Geheimnissen. Gideon hatte keine Ahnung, wie Amun davon erfahren hatte. „Bring ihn zum Schweigen. Bring ihn sofort zum Schweigen!“
Der kleine Junge sprang erschrocken auf, bevor er losstürmte. Als Lucien und Reyes ihn packen wollten, rauschten ihre Arme durch ihn hindurch, und beide Krieger schrien vor Schmerzen auf. Ihre Schreie vermischten sich mit denen von Gideon und Amun. Die zwei Männer sanken zu Boden wie Gewichte auf den Meeresgrund, und ihre Körper zuckten, als richtete jemand eine Elektroschockpistole auf sie. Anya hockte sich hinter sie, bereit, nach vorn zu springen, falls der Junge noch einmal versuchen sollte, sie zu berühren.
Ich kann nicht zulassen, dass dieses Kind Amun so verletzt, dachte Gideon und zwang sich aufzustehen. Er war wackelig auf den Beinen, ihm war schwindelig, und die Schmerzen trieben ihm die Tränen in die Augen. Er musste sich vorbeugen und den Magen halten, um sich nicht zu übergeben. Mit der freien Hand schnappte er sich seinen Dolch und hielt ihn ohne Warnung hoch. Nur – wie sollte er jemanden aufhalten, den er nicht ergreifen konnte?
Anya streckte einen Arm in Richtung des Jungen aus, der jetzt neben Amun kniete und kurz davor war, ihm an die Kehle zu fassen. Um was zu tun? Kurz bevor sie ihn berührte, hielt sie inne.
„Fass ihn nicht
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