Die Herren der Zeit
Kittel und zog ihn zu sich heran, dass die Füße des schmächtigen Kerls kaum noch den Boden berührten.
»Was steht hier an?«, sagte er in einem Ton wie Donnergrollen. »Was soll der Schwatz?«
Dem Händler hatte es die Sprache verschlagen. Er deutete nur mit einer zitternden Hand auf etwas Weißes, das an die Tür des Hurenhauses genagelt war.
»Du kümmest mit!«, grollte Talmond und schleifte den Unglückseligen hinter sich her.
An der Tür hing ein Blatt aus einem dünnen Material, fast wie Pergament, nur heller, und darauf war in schwarzen Lettern eine Inschrift angebracht. Aus der Inschrift heraus starrte als Holzschnitt das kühne Gesicht eines bärtigen Mannes mit einer Klappe über dem einen Auge.
Talmond kniff das heile Auge zusammen. »Lies!«
Der Gefangene wand sich. »Ich … ich kann nicht lesen.«
Talmond wandte den Kopf. Seine Stirn war gefurcht. Das Gewitter, das dahinter braute, mochte jeden Augenblick losbrechen.
»Kannst du lesen, Wichtel?«, fragte er Aldo, der ihn mit großen Augen anstarrte.
Aldo schluckte. »Ich kann’s versuchen, Herr.«
Er trat heran. Der obere Teil des Dokuments war verschmiert, sodass er kaum zu entziffern war: »Das ist die Hochsprache«, sagte Aldo, »davon verstehe ich nichts. Aber der Teil in der Gemeinen Sprache, den ich erkennen kann–«
»Lies, sag ich!«
»›… tot oder lebendig. Belohnung dreißig Goldstücke.‹ Und darunter …« Er sah zu dem wutentbrannten Mann auf und zögerte. »Es ist schwer zu lesen, wegen der Schrift und so …«
»Es heißt: ›Talmond, Waldritter von Thuryn‹«, warf da Burin ein. ›»Criminis capitalis causa. Wegen Hochverrats.‹«
Talmond starrte ihn an. Doch wer erwartet hätte, dass ihm jetzt das Blut aus dem Gesicht gewichen wäre, sah sich enttäuscht. »Wer … wer hat das gewagt?« Es war nicht der Schrecken, der ihm die Sprache verschlug.
Der große schwere Mann war außer sich vor Zorn.
Seine Hand schoss vor und fetzte das Plakat von der Wand. Er fuhr herum. Seine Hand ging zu seinem Gürtel. Doch da war nichts, keine Waffe, nicht einmal ein Dolch.
Die Marktleute standen in einem Halbkreis bei ihren Ständen und starrten. Den Händler, den Talmond am Wickel gepackt hatte, hatte er in seiner Erregung wieder losgelassen; der Mann schlich sich, rückwärts gehend, zu seinen Standesgenossen zurück und rieb sich dabei mit schmerzverzerrtem Gesicht den Hals. »Wachen! Wachen!« Es war mehr ein Krächzen als ein Ruf. Die anderen Händler griffen das Wort auf: »Wachen!«
Doch die Wachen waren bereits da. Zwei Gestalten bahnten sich ihren Weg durch die Marktstände. Sie trugen eine Art Rüstung von einfachster Art, nicht einmal ein Kettenhemd oder einen Panzer, sondern eine Art Wams aus gekochtem Leder mit aufgenähten Metallringen, dazu einen einfachen Lederhelm mit Eisenspangen. Außerdem trug jeder von ihnen einen Speer mit festem Schaft und breiter Klinge.
»Was geht hier vor?«
Mussten Ordnungshüter eigentlich immer dieselben dämlichen Fragen stellen, fragte sich Aldo, oder war der hier einfach nur besonders beschränkt?
Der Händler zeigte mit dem Finger auf Talmond: »Da … das ist der Mann«, sagte er leise, als traute er sich nicht recht. Und noch leiser fügte er hinzu: »… Belohnung?«
Die beiden Wachen traten auf Talmond zu. Der sah ihnen ungerührt entgegen, als schätzte er sie nicht einmal zu zweit als ebenbürtige Gegner ein. Vom Gewicht her mochte er es mit beiden aufnehmen. Doch die Speere in ihren Händen gaben den beiden Stadtwachen angesichts ihres unbewaffneten Opfers Mut.
»Du«, sagte der eine. »Mitkommen!«
Talmond grinste. In diesem Augenblick bahnten sich zwei weitere Wachen ihren Weg durch die umstehenden Händler. Sie hatten ihre Speere gefällt, die vorgestreckten Spitzen glänzten schartig im Morgenlicht. Die Lage wurde prekär. Anscheinend wimmelte die Stadt von Wachen. Von irgendwoher hörte man Befehle, Waffengeklirr.
»Dieser Mann ist mein Gefangener«, grollte eine tiefe Stimme.
Gorbaz trat aus den Schatten heraus. Er überragte die Stadtwachen um einen halben Kopf. Und da war noch mehr; es zeigte sich in ihren ausdruckslosen, brutalen Gesichtern, hinter deren fliehenden Stirnen ein Gedanke dämmerte: Sie waren erst einen Schritt auf dem Weg gegangen, der sie von Menschen zu lebenden Kampfmaschinen machte. Gorbaz stand am Ende dieser Entwicklung; er war das, was ihre Kindeskinder eines Tages sein würden. In der Legion des Schwarzen Imperiums mochte Gorbaz
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