Die Herren der Zeit
Glitzerstaubs wurde ihnen das wahre Ausmaß des freigelegten Hohlraums bewusst. Er war gewaltig, und wie weit er sich in die Tiefe erstreckte, vermochte man nicht zu sagen. Es war offensichtlich, dass es sich nicht um eine von Zwergen geschaffene Höhle handelte; denn sie fraß sich von der Seite in den Gang, dass dessen Boden wie von einem plötzlichen Spatenstich abgetrennt endete. Oder von einer grabenden Hand.
Denn auch dies war offensichtlich: Es handelte sich nicht um einen natürlichen Einbruch. Dazu waren die Ränder zu exakt, die Rundungen zu glatt. Aber wenn jemand diese gewaltige Höhlung aus dem Fels gegraben hatte, wohin hatte er dann den Abraum verschafft? Sicherlich kaum durch den Gang, durch den sie gekommen waren.
Es gab keine Zeit für lange Überlegungen. »Folgen wir ihm«, meinte Ithúriël und ließ den Worten sogleich die Tat folgen. Sie hockte sich auf die Kante und ließ sich, die Füße voran, den Abhang hinuntergleiten. Zum Glück war der Boden geneigt, aber dennoch kam sie auf dem Weg nach unten so in Fahrt, dass Burin sie schließlich auffangen musste. Das Höhlenglitzern vollführte einen wilden Tanz, wie um sie willkommen zu heißen.
Gilfalas war ihr bereits gefolgt, ehe sie unten angekommen war.
Aldo zögerte noch einen Moment, dann ließ auch er sich über die Kante hinab. Er versuchte, die Bewegung mit schnellen Trippelschritten aufzufangen, kam aber dann doch ins Rutschen und war schließlich froh, als Burins fester Griff ihn zum Halten brachte.
Gorbaz bildete, wie üblich, den Schluss. Der Bolg nahm den längeren Weg, an der Schräge entlang. Unter seinen Stiefeln rieselte das losgetretene Gestein. Die Glitzerfunken wirbelten auf, wenn ein Stein hindurchflog, fast, als seien sie verärgert.
»Ihr seid ganz sicher, Burin, dass dieses eledh-ithin , dieser Sternenglanz, nicht doch lebt?«, fragte Ithúriël.
»Ziemlich sicher«, antwortete Burin. »Nach den Lehren der Zwerge ist es eine rein alchemistische Reaktion. Ihr mögt das natürlich anders sehen.«
Ithúriël hob die Hand. Der Glitzerstaub floss zu ihr hin, wie von einem unwiderstehlichen Verlangen angezogen, und umschmeichelte ihre Finger.
»Was mich viel mehr interessiert«, sagte Gilfalas, »ist, was das hier für eine Höhle ist.«
»Kein Zwergenwerk«, stellte Burin kategorisch fest. »Und sie muss noch recht neu sein. Denn sie ist jünger als der Gang, das steht fest.«
»Alt«, grollte Gorbaz, als er in einer Wolke aus Staub zum Stehen kam. »Zu viele Steine.« Mit seiner Prankenhand wies er auf den Boden der Höhle, und Burin erkannte, was er meinte. Der Grund war übersät von Geröll, Steine, die aus den Wänden und von der Decke herabgefallen und von dem fließenden Wasser rundgeschliffen worden waren. Dies war nicht das Werk weniger Tage oder Wochen, das war eine Sache von Jahren, Jahrzehnten, wenn nicht mehr.
»Wohin jetzt?«, fragte Gorbaz, der nichts vom langen Herumstehen hielt.
»Hinauf«, meinte Burin. »Dorthin, wo der Gang weiterführt.« Er wies auf einen steilen Abhang im weiteren Verlauf der Höhlenwand, an dessen oberem Ende ein schwarzes Loch gähnte.
»Nein«, widersprach da Ithúriël. »Dort geht der Weg. Abwärts. Folgt mir!« Und mit raschem Schritt ging sie voran, umwirbelt von einem Schleier aus Sternenstaub.
»Du hörst, was die Herrin sagt«, sagte Gilfalas. »Also, auf, folgen wir ihr.«
Er sprang ihr nach, von Stein zu Stein hüpfend. Burin blieb nichts übrig, als den beiden nachzustapfen.
»Ob das so klug ist?«, meinte Aldo, an Gorbaz gewandt.
Der hob nur die Schultern.
»Wir können nicht bleiben«, sagte er mit seiner tiefen, rauen Stimme. Er zeigte auf den Boden. Das Rinnsal, das sich auf dem Grund der Höhle entlangzog, hatte bereits in der kurzen Zeit, die sie hier unten verbracht hatten, an Stärke zugenommen. Mit einem hörbaren Gurgeln überschwemmte es die Kiesel. »Wasser steigt.«
Das Wasser floss jetzt schneller.
Es ließ sich mit der Zunge nicht mehr auffangen, nicht einmal mit dem Mund. Es entzog sich jeder Kontrolle. Es war zu viel. So viel hatte es noch nie gegeben, nicht hier, nicht seit langer, langer Zeit.
Zeit ist Veränderung.
Zeit ist der Wechsel von Tag und Nacht, von Sonne und Mond, von Sommer und Winter.
Zeit fließt. Mal wie ein langsamer, ruhiger Fluss, mal wie ein Sturzbach, der alles und jeden hinwegreißt: Baum und Strauch, Vogel und Mensch, Hügel und Berg. Selbst das harte Gestein, aus dem die Welt ist, wird von der Zeit Stück für
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