Die Herren der Zeit
lehmverschmiert.
»Steht hier nicht rum! Die Zeit wird knapp!«
Während Gilfalas sie noch anstarrte, schulterte Burin ihn beiseite. »Lass mich mal ran!«, knurrte er. Seine kundigen Hände prüften das Gestein. Er schob die Finger in die Öffnung und drückte.
Ein Zittern ging durch den Fels. Ringsum bildeten sich Risse, weiteten sich, als der Lehm zwischen den Steinen ins Rutschen kam. Einen Moment lang leisteten sie noch Widerstand. Dann war der Punkt überschritten, an dem die Struktur des Gesteins sich selbst Halt gab, und das ganze Gefüge löste sich auf. Die Wand gab nach, die Steine sackten nach hinten, und während das Wasser aus dem Tunnel wild schäumend die neue Bahn begrüßte, die sich ihm bot, polterten Schlamm und Geröll in einer Lawine hinab in die Tiefe.
»Vorsicht!«, schrie Ithúriël.
Im ersten Augenblick glaubte Burin, die Warnung habe ihm gegolten. Doch obwohl das Wasser seine Beine umspülte, war er nicht in Gefahr. Dann, als der Glitzerstaub in einer langen Bahn in die sich öffnende Leere stob, wurde ihm klar, dass der Ruf dem zugedacht war, was dort unten in der Dunkelheit lauerte.
Aus der Tiefe gellte ein Schrei, grässlich und wild, ein Schrei, der aus einer zugefrorenen, nichtmenschlichen Kehle zu kommen schien und in dem eine solche abgrundtiefe Verzweiflung lag, dass es das Blut in den Adern gerinnen ließ.
Er schrie.
Es war die einzig mögliche Antwort. Nichts war mehr so, wie er es kannte. Seine Welt hatte aus den Wänden seiner Zelle bestanden, von dem nackten Grund bis zu der mächtigen Steinplatte, die ihre Decke bildete. Mit einem Tröpfeln hatte es begonnen, sich mit einem Sturzbach fortgesetzt, mit Zerstörung war es geendet. Er hatte sich abgefunden mit der ewigen Dunkelheit, weil er nichts anderes mehr kannte. Und nur war alles anders.
Schmerz.
Es war das Einzige, woran er sich noch erinnerte, wenn die blinde Dunkelheit ihn umhüllte. Schmerz war im Anfang gewesen, in der Zeit vor dem endlosen Jetzt. Er hatte ihn fast vergessen gehabt. Jetzt war der Schmerz wiedergekommen.
Er schmeckte sein eigenes Blut, wo ein Stein ihn getroffen hatte. Woher kamen sie, die pfeifenden Geschosse aus dem Dunkel? Woher der Lärm, das Gepolter, wo zuvor endlose Stille geherrscht hatte? Er verstand es nicht, verstand nicht, was plötzlich mit ihm geschah. Eine Kaskade von Sinneseindrücken, wo jedes Gefühl verstummt war. Er hörte, schmeckte, fühlte.
Und er sah.
Ein Licht erglomm in der Finsternis. Einen Augenblick lang schien ein Schatten davor zu gleiten, etwas, das mehr als bloße Dunkelheit war und doch weniger als greifbare Substanz. Dann flimmerte das Licht frei über dem Abgrund, und zum ersten Mal seit undenklichen Zeiten sah er seine Umgebung.
Dann sah er sie.
Ein weißer Fleck hoch oben in der Wand, wo die fallenden Steine ein Loch geöffnet hatten. Ihr Gesicht war fein geschnitten, umgeben von nassem, hellem Haar. Ihre mandelförmigen Augen schimmerten im glitzernden Licht. Sie war so unendlich schön, dass es ihn schmerzte, auch nur hinzuschauen. Die Worte fehlten ihm, selbst wenn er hätte sprechen können.
Ihre Stimme, klar wie Kristall, süß wie Musik.
Er verstand nicht, was sie sagte. Er wusste, was Sprache war und wozu sie diente, doch die Worte drangen zwar an sein Ohr, aber sein Gehirn konnte sie nicht verarbeiten. Er wusste nicht einmal, ob es eine Sprache war, die er kennen sollte. Allein die Stimme zu hören war für ihn wie die Erfüllung eines lang gehegten Wunsches.
Zum ersten Mal, seit man ihn in dieses Gefängnis geworfen hatte, war er glücklich.
Tränen liefen ihm über die Wangen, und ihr Salz vermischte sich mit dem salzigen Geschmack seines Blutes.
Dann verschwand das Gesicht.
Die Leere, die ihn überfiel, war schlimmer als alles, was er zuvor gekannt hatte. Er hatte nicht wissen können, was ein solcher Verlust bedeutete, doch nun wog dieser doppelt schwer. Er keuchte. Sein Herz pochte wie wild, und das Blut klopfte in seinen Schläfen, als wollte sein Schädel zerspringen.
Ein Ruf von oben ließ ihn aufblicken.
Etwas schlängelte sich herab, ein langes, glitzerndes Band. Instinktiv griff er danach, krallte sich daran fest, um es nie wieder herzugeben.
Dann spürte er, wie er emporgezogen wurde, aus der Tiefe des Todes in die Höhe des Lebens.
»Ein Seil! Gebt mir ein Seil!«
Ithúriëls Ruf klang Aldo noch im Ohr, als er seinen Rucksack bereits wieder schulterte. Welch ein Glück, dass die Elben im Verborgenen Tal auch ein Seil in
Weitere Kostenlose Bücher