Die Herren des Geldes: Wie vier Bankiers die Weltwirtschaftskrise auslösten und die Welt in den Bankrott trieben (German Edition)
aus den Druckereien der Reichsbank und fuhren von Fabrik zu Fabrik. Dort bestieg jemand den Wagen und verteilte große Geldbündel unter den Arbeitern, die dann eine halbe Stunde frei hatten, um eilig einzukaufen, bevor das Geld wertlos wurde. In den Geschäften nahmen sie fast alles mit, um es später gegen lebensnotwendige Dinge auf den Schwarzmärkten zu tauschen, die in der ganzen Stadt entstanden waren.
Da man ständig Preise im Bereich von Milliarden und Billionen berechnen und wieder neu berechnen musste, wurde jede Art von vernünftiger kommerzieller Kalkulation fast unmöglich. Deutsche Ärzte diagnostizierten sogar eine seltsame Krankheit, die sich im Land ausbreitete, und die sie »Ziffernwahn« nannten. Laut der New York Times verhielten sich die Betroffenen in jeder anderen Hinsicht völlig normal – abgesehen davon, dass sie »endlose Zahlenreihen aufschrieben und sich höchst komplizierten Berechnungen widmeten.« Ansonsten völlig vernünftige Menschen sagten, sie seien zehn Milliarden Jahre alt oder hätten 40 Billionen Kinder. Offenbar waren Kassierer, Buchhalter und Bankiers besonders anfällig für diese bizarre Krankheit. Die meisten Leute wandten sich einfach dem Tauschhandel zu oder verwendeten ausländische Währungen. Jede Hausfrau aus der Mittelschicht kannte den stundenaktuellen Wechselkurs zwischen Mark und Dollar. An jeder Straßenecke, in Geschäften und bei Tabakhändlern, sogar in Wohnblocks entstanden kurzfristig Wechselstuben. Draußen hing eine Tafel, auf der die aktuellen Wechselkurse notiert waren.
Da die Mark schneller an Wert verlor als die Preise im Land stiegen, konnten sich Ausländer ein grotesk angenehmes Leben leisten. In Berlin konnte man für 500 Dollar Wohnungen kaufen, die vor dem Krieg 10 000 Dollar wert gewesen waren. Malcolm Cowley, ein amerikanischer Literaturkritiker, der in Paris lebte und in Berlin den mit ihm befreundeten Journalisten Matthew Josephson besuchte, schrieb: »Mit einem Gehalt von 100 Dollar im Monat lebte Josephson in einem Doppelappartement mit zwei Dienstmädchen, Reitstunden für seine Frau, Abendessen nur in den teuersten Restaurants, Konzertbesuche; er sammelte Gemälde und unterstützte deutsche Schriftsteller in finanziellen Nöten – für Ausländer war es ein verrücktes Leben in Berlin, und niemand konnte dort glücklich sein.« Für 100 Dollar buchte ein Texaner die Berliner Philharmoniker für einen Konzertabend. Die Diskrepanz zwischen den Extravaganzen der Ausländer, viele von ihnen Franzosen oder Briten, aber auch Polen, Tschechen und Schweizer, und dem täglichen Überlebenskampf der deutschen Durchschnittsbürger steigerte den Groll gegen die Versailler Verträge nur noch mehr.
Die Inflation veränderte die Klassenstruktur in Deutschland viel stärker als jede Revolution es vermocht hätte. Den reichen Industriellen ging es gut. Ihre großen Besitztümer realer Vermögensgegenstände – Fabriken, Land, Gütervorräte – stiegen im Wert, während die Inflation ihre Schulden tilgte. Die Arbeiter, vor allem die gewerkschaftlich organisierten, schnitten ebenfalls überraschend gut ab. Bis 1922 hielten ihre Löhne mit der Inflation Schritt, und Arbeitsplätze gab es reichlich. Erst in der letzten Phase, von Ende 1922 bis 1923, als niemand mehr Vertrauen in das monetäre System hatte und die Wirtschaft zum Tauschhandel zurückkehrte, wurden Arbeiter entlassen.
Diejenigen, die das Rückgrat Deutschlands bildeten – Beamte, Ärzte, Lehrer und Professoren – waren am schlimmsten betroffen. Ihre Investitionen in Staatsanleihen und ihre Bankguthaben, sorgfältig zusammengetragen in einem von Vorsicht und Disziplin geprägten Leben, waren plötzlich wertlos. Sie mussten von mageren Pensionen und Gehältern leben, deren Wert durch die Inflation dezimiert wurde, und sie mussten die letzten Spuren ihrer Würde aufgeben. Kaiserliche Offiziere wurden Bankangestellte, Familien aus der Mittelschicht nahmen Untermieter auf, Professoren bettelten auf den Straßen und junge Damen aus angesehenen Familien wurden Prostituierte.
Das ganz große Geld aber verdienten die Spekulanten. Sie kauften reale Güter – Häuser, Juwelen, Gemälde und Möbel – zu lächerlichen Preisen von Mittelschichtfamilien, die unbedingt Geld brauchten. Sie manipulierten die Märkte rarer Güter, profitierten von importierten Rohstoffen und spekulierten auf den weiteren Zusammenbruch der Währung. Sie bereicherten sich mehr als sie es sich jemals hätten träumen
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