Die Herren des Nordens
muss
Wagnisse eingehen. Alfred ist zu vorsichtig.»
|280| Ich unterdrückte ein Lächeln. «Glaubst du wirklich, dass er vorsichtig ist?»
«Natürlich ist er das», sagte Ragnar verächtlich.
«Nicht immer», sagte ich und unterbrach mich dann, weil ich nicht wusste, ob ich aussprechen sollte, was ich gerade dachte.
Mein Zögern ärgerte Ragnar. Er wusste, dass ich ihm etwas verschwieg. «Was?», forderte er zu wissen.
Ich zögerte immer noch, dann entschied ich, dass diese alte Geschichte wohl nichts schaden konnte. «Erinnerst du dich an diese
Winternacht in Cippanhamm?», fragte ich. «Als Guthrum dort war und ihr alle glaubtet, ganz Wessex sei besiegt, und ihr in
der Kirche gesessen und getrunken habt?»
«Natürlich erinnere ich mich daran.»
Es war der Winter gewesen, in dem Guthrum Wessex überfallen hatte, und es hatte so ausgesehen, als hätte er den Krieg gewonnen,
denn die Armee Westsachsens war völlig aufgelöst. Manche Thegn waren außer Landes geflüchtet, viele andere hatten mit Guthrum
ihren Einzelfrieden geschlossen, und Alfred musste sich im Marschenland von Somersæte verstecken. Doch Alfred war, obwohl
besiegt, doch nicht gebrochen, und er hatte darauf beharrt, sich als Harfenspieler zu verkleiden und heimlich nach Cippanhamm
zu gehen, um die Dänen auszuspähen. Fast wäre dieses Unternehmen mit einer Katastrophe zu Ende gegangen, denn Alfred fehlte
jede Gerissenheit des Spähers. Ich hatte ihn in dieser Nacht gerettet, und in der gleichen Nacht entdeckte ich Ragnar in der
Kirche des Königs. «Und erinnerst du dich auch», fuhr ich fort, «dass ich einen Diener bei mir hatte, der sich mit einer tief
ins Gesicht gezogenen Kapuze hinten in die Kirche hockte und dem ich befahl zu schweigen?»
|281| Ragnar zog die Augenbrauen zusammen, während er sich die Winternacht ins Gedächtnis rief. Dann nickte er. «So war es, das
stimmt.»
«Das war kein Diener», sagte ich, «das war Alfred.»
Ragnar starrte mich an. In seinem Kopf arbeitete es. Ihm wurde klar, dass ich ihn in jener lang vergangenen Nacht belogen
hatte, und ihm wurde ebenfalls klar, dass er, hätte er nur gewusst, wer sich unter der Kapuze verbarg, in dieser Nacht ganz
Wessex für die Dänen hätte erobern können. Einen Moment lang bereute ich, ihm diese Sache erzählt zu haben, denn ich dachte,
er würde wütend auf mich werden, aber dann lachte er nur. «Das war Alfred? Im Ernst?»
«Er war losgegangen, um euch auszuspähen», sagte ich, «und ich bin losgegangen, um ihn zu retten.»
«Das war Alfred? Mitten in Guthrums Lager?»
«Er geht Wagnisse ein», sagte ich und kehrte damit wieder zu unserem Gespräch über Mercien zurück.
Aber Ragnars Gedanken waren immer noch bei dieser fernen, kalten Nacht. «Warum hast du es mir nicht gesagt?», wollte er wissen.
«Weil ich ihm meinen Eid geleistet hatte.»
«Wir hätten dich reicher als den reichsten König gemacht», sagte Ragnar. «Wir hätten dir Schiffe, Männer, Pferde, Silber,
Frauen, wir hätten dir alles gegeben! Du hättest nur den Mund aufzumachen brauchen.»
«Ich hatte ihm meinen Eid geleistet», wiederholte ich, und ich erinnerte mich, wie kurz ich davor gestanden hatte, Alfred
zu verraten. Die Versuchung, einfach die Wahrheit zu sagen, hätte mich beinahe überwältigt. In dieser Nacht hätte ich mit
ein paar Worten dafür sorgen können, dass niemals mehr ein Sachse in England regierte. Ich hätte Wessex in ein dänisches Königreich
verwandeln können. |282| Ich hätte all dies tun können, indem ich einen Mann, den ich nicht besonders mochte, an einen Mann verriet, den ich wie einen
Bruder liebte, und doch hatte ich geschwiegen. Ich hatte einen Eid geleistet, und die Ehre fesselt uns an Wege, die wir selbst
uns nicht aussuchen würden. «Wird bið ful āræd», sagte ich.
Das Schicksal ist unausweichlich. Es schließt uns ein wie ein Harnisch. Ich hatte geglaubt, Alfred und Wessex entkommen zu
sein, doch hier war ich wieder, zurück in seinem Palas. An diesem Nachmittag kehrte er mit viel Hufgeklapper und einer lärmenden
Schar Diener, Mönche und Priester zurück. Zwei Männer trugen das Bett des Königs zurück in sein Zimmer, während ein Mönch
eine Schubkarre vor sich herschob, in der sich ein hoher Stapel Dokumente türmte, ohne die Alfred seine eintägige Abwesenheit
offenbar nicht hätte überstehen können. Ein Priester eilte mit einem Altartuch und einem Kruzifix vorbei, während zwei weitere
Weitere Kostenlose Bücher