Die Herren des Nordens
sie,
und unsere Männer waren ihnen dicht auf den Fersen. Steapa stieg ab, um den letzten der Gegner durchs dichte Unterholz zu
verfolgen. Ich sah, wie sich seine Axt hob und niederfuhr, und darauf folgte ein kaum enden wollender Schrei. Ich dachte,
nun müsse |388| er aufhören, aber der Schrei hielt an, und Steapa hielt inne, weil er niesen musste. Dann hob er seine Axt erneut, und als
sie niedergefahren war, herrschte unvermittelt Stille.
«Hast du dich erkältet?», fragte ich ihn.
«Nein», sagte er und schob sich, die Leiche hinter sich herziehend, aus dem Unterholz. «Sein Gestank ist mir in die Nase gestiegen.»
Nun war Kjartan blind. Er wusste es nicht, aber er hatte seine Späher verloren, und sobald die neun Männer tot waren, bliesen
wir in ein Horn, um Guthred zurückzurufen. Während wir auf ihn warteten, nahmen wir den Toten alles Wertvolle ab. Wir nahmen
ihre Pferde, ihre Armringe, Waffen, ein paar Münzen, etwas feuchtes Brot und zwei Schläuche mit Birkenwein. Einer der Männer
hatte ein gutes Kettenhemd getragen, so gut, dass ich vermutete, es sei im Frankenreich gemacht worden, aber er war so mager
gewesen, dass niemand von uns in das Hemd passte. Da nahm es Gisela für sich selbst. «Du brauchst keine Rüstung», sagte ihr
Bruder spöttisch.
Gisela beachtete ihn nicht. Sie war erstaunt, dass ein so feines Kettenhemd so viel wiegen konnte, aber sie zog es dennoch
über ihren Kopf, befreite ihr Haar im Nacken aus den Kettengliedern, und gürtete sich mit dem Schwert eines der Toten. Dann
warf sie sich ihren schwarzen Umhang über die Schultern und sah Guthred herausfordernd an. «Nun?»
«Du jagst mir Angst ein», sagte er mit einem Lächeln.
«Gut», sagte sie, und dann führte sie ihr Pferd ganz nahe neben meines, sodass die Stute ruhig stehen blieb, während sie aufstieg.
Doch Gisela hatte das Gewicht des Kettenhemdes nicht bedacht und musste sich schwer in den Sattel hochkämpfen.
«Es steht dir gut», sagte ich, und das stimmte auch. Sie |389| sah aus wie eine Walküre, eine dieser Kriegerinnen Odins, die in strahlenden Rüstungen über den Himmel reiten.
Wir wandten uns nun nach Osten und zogen schneller weiter. Wir ritten durch die Wälder, duckten uns immerzu unter den Zweigen,
die uns ins Gesicht zu schlagen drohten, ritten einen Hügel hinab und folgten einem vom Regen geschwollenen Flusslauf, der
uns zum Wiire führen musste. Am frühen Nachmittag waren wir in der Nähe Dunholms, wohl kaum mehr als fünf oder sechs Meilen
entfernt. Nun führte uns Sihtric, denn er glaubte sich an eine Stelle zu erinnern, an der wir den Wiire überqueren konnten.
Der Lauf des Wiire machte, nachdem er an Dunholm vorbei war, einen Bogen nach Süden und verbreiterte sich, wo er über flacheres
Weideland floss. In diesen sanften Tälern, so erklärte uns Sihtric, gab es mehrere Furten. Er kannte diese Gegend gut, denn
die Eltern seiner Mutter hatten hier gelebt, und er hatte als Kind oft das Vieh über den Fluss getrieben. Es war ein Vorteil,
dass diese Furten östlich von Dunholm lagen, denn diese Seite ließ Kjartan nicht bewachen, weil er nicht damit rechnete, von
hier aus angegriffen zu werden. Doch der Regen, der am Nachmittag wieder eingesetzt hatte, konnte uns zum Hindernis werden,
indem er den Wiire so ansteigen ließ, dass die Furt nicht mehr zu durchqueren war.
Immerhin verbargen uns die Regenschleier, als wir von den Hügeln hinunter in das Flusstal ritten. Wir waren nun sehr dicht
an Dunholm, das im Norden vor uns lag, doch immer noch im Schutz eines bewaldeten Hügelausläufers, an dessen Fuß einige Hütten
dicht beieinanderstanden. «Hocchale», erklärte mir Sihtric mit einem Nicken in Richtung der Siedlung, «dort ist meine Mutter
geboren worden.»
«Sind deine Großeltern immer noch dort?»
|390| «Kjartan hat sie umbringen lassen, Herr, als er meine Mutter von seinen Hunden zerreißen ließ.»
«Wie viele Hunde hat er?»
«Als ich dort war, hatte er vierzig oder fünfzig. Riesige Ungeheuer. Sie gehorchten nur Kjartan und seinen Jägern. Und der
Herrin Thyra.»
«Sie haben ihr gehorcht?», fragte ich nach.
«Mein Vater wollte Thyra einmal bestrafen», sagte Sihtric, «und hat die Hunde auf sie gehetzt. Ich glaube nicht, dass er vorhatte,
sie auffressen zu lassen, er wollte ihr nur Angst einjagen, aber da hat sie angefangen, für sie zu singen.»
«Sie hat für sie gesungen?», fragte Ragnar. In den letzten Wochen hatte er
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