Die Herren des Nordens
ständige Regen hörte auf, und ein breites,
rotes Strahlen durchbrach die Wolken am westlichen Himmel. Wir ritten geradewegs in das Licht des leuchtend untergehenden
Sonnenballs hinein, das sich auf meinem Helm mit der Kammzier des silbernen Wolfsrachens widerspiegelte und mein Kettenhemd,
meine Armringe und die Hefte meiner beiden Schwerter aufschimmern ließ, und mit einem Male rief jemand, ich sei der König.
Ich sah auch aus wie ein König. Ich ritt Witnere, der seinen mächtigen Kopf hochwarf und mit den Hufen aufstampfte, und ich
strahlte förmlich in meiner Kriegerpracht.
Cair Ligualid war voller Leute. Hier und da war ein Haus wieder aufgebaut worden, doch die meisten hatten sich mitsamt ihrem
Vieh mehr schlecht als recht in den verkohlten Ruinen eingerichtet, und es waren viel mehr, als nach dem Überfall der Nordmänner
hier übrig geblieben sein konnten. Es war denn auch das Volk aus Cumbrien, das von seinen Priestern oder Herren mit dem Versprechen |78| nach Cair Ligualid geführt worden war, dass die Ankunft ihres neuen Königs bevorstehe. Und nun näherte sich im Widerschein
des Sonnenuntergangs von Osten ein strahlender Krieger auf einem großen, schwarzen Pferd.
«Der König!», rief eine andere Stimme, und der Ruf wurde von vielen anderen Kehlen aufgenommen, und die Leute strömten aus
ihren behelfsmäßigen Unterkünften und starrten mich an. Willibald versuchte sie wegzuschicken, aber seine westsächsischen
Worte gingen in dem Gelärme unter. Ich erwartete, dass Guthred ebenfalls etwas dagegen tun würde, doch stattdessen zog er
sich seinen Umhang über den Kopf, sodass er aussah wie einer der Geistlichen, die sich anstrengen mussten, an unserer Seite
zu bleiben, während uns die Menge bedrängte. Die Leute knieten nieder, als wir vorbeikamen, und sprangen dann wieder auf die
Füße, um sich dem Zug anzuschließen. Hild lachte, und ich nahm sie an der Hand, damit sie an meiner Seite ritte wie eine Königin.
Die wachsende Menge begleitete uns einen langen, sanften Hügel hinauf, auf dessen Gipfel ein neues Gebäude stand. Als wir
näher kamen, erkannte ich, dass es kein Palas, sondern eine Kirche war, und dass Priester und Mönche zu unserem Empfang vor
die Tür traten.
In Cair Ligualid herrschte der Wahn. Es war ein anderer Wahn als der, durch den in Eoferwic der Blutrausch ausgelöst worden
war, aber Wahnsinn war es dennoch. Frauen weinten, Männer riefen laut durcheinander, und Kinder starrten verständnislos um
sich. Mütter hielten mir ihre Säuglinge entgegen, als ob meine Berührung sie heilen könnte. «Ihr müsst sie davon abhalten!»
Es war Willibald gelungen, sich an meine Seite zu drängen, und er hängte sich an meinen rechten Steigbügel.
«Warum?»
|79| «Weil sie sich täuschen, natürlich! Guthred ist der König!»
Ich lächelte ihn an. «Vielleicht», sagte ich langsam, als hätte ich diesen Einfall gerade jetzt erst, «vielleicht könnte ich
ja an seiner statt König werden.»
«Uhtred!», rief Willibald entsetzt.
«Warum nicht?», fragte ich. «Meine Vorfahren waren auch Könige.»
«Guthred ist der König!», widersprach Willibald. «Der Abt hat ihn dazu ernannt!»
Und so hatte der Wahnsinn in Cair Ligualid seinen Anfang genommen. In der Stadt hatten sich nur noch Füchse und Vögel getroffen,
als Abt Eadred von Lindisfarena über die Hügel kam. Lindisfarena ist das Kloster, das ganz nah bei Bebbanburg liegt. Das ist
an der östlichen Küste Northumbriens, während sich Cair Ligualid ganz im Westen befindet, doch der Abt, vertrieben von dänischen
Überfällen, war nach Cair Ligualid gekommen und hatte hier die neue Kirche gebaut, vor der wir jetzt standen. Außerdem hatte
der Abt Guthred in seinen Träumen gesehen. Heute kennt natürlich jeder Northumbrier die Erzählung davon, wie der Heilige Cuthbert
dem Abt die Erscheinung von Guthred verschaffte, doch damals, an dem Tag von Guthreds Ankunft in Cair Ligualid, schien diese
Geschichte einfach nur die jüngste Narrheit von den vielen Narrheiten zu sein, die sich auf der Welt zutragen. Die Leute jubelten
mir zu, nannten mich König, und Willibald drehte sich zu Guthred um. «Sagt ihnen, sie sollen damit aufhören!»
«Das Volk will einen König», sagte Guthred, «und Uhtred sieht wie ein König aus. Lasst ihn den Leuten für einen Moment.»
Einige mit Knüppeln bewaffnete jüngere Mönche hielten die aufgeregte Menge von den Kirchentüren fern. Eadred |80|
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