Die Herren des Nordens
Lippen bewegten sich, während er |90| seine Augen zu den Dachbalken erhoben hatte, zwischen denen die Sperlinge umherjagten. Und dann endlich öffnete er die beiden
schweren Bronzeschließen des Kastens und hob den Deckel.
In der großen Truhe lag eine Leiche. Sie war in ein Leinentuch gehüllt, doch ich konnte die Formen des Körpers auch so deutlich
genug erkennen. Guthred hatte wieder meinen Arm gepackt, als könne ich ihn vor Eadreds Hexenwerk beschützen. Eadred schlug
inzwischen vorsichtig das Leinen auseinander und enthüllte so einen toten Bischof in einem weißen Gewand, dessen Gesicht von
einem viereckigen Stück weißen Stoffs mit Goldsaum bedeckt war. Die Leiche trug ein besticktes Skapulier um die Schultern,
und eine verbeulte Mitra war ihr vom Kopf gerutscht. Ein goldenes Kreuz mit Verzierungen aus Granatsteinen lag, halb verdeckt
von ihren zum Gebet gefalteten Händen, auf ihrer Brust. An einem vertrockneten Finger glänzte ein Rubinring. Ein paar der
Mönche schnappten keuchend nach Luft, als ob sie die Kraft der Heiligkeit nicht ertragen könnten, die von der Leiche ausging,
und sogar Eadred war überwältigt. Er berührte den Rand des Sarges mit der Stirn und richtete sich dann auf, um mich anzusehen.
«Wisst Ihr, wer das ist?», fragte er.
«Nein.»
«Im Namen des Vaters», sagte er, «und des Sohnes und des Heiligen Geistes», und dann nahm er das Stück goldgesäumten Leinens
weg, um ein gelbliches Antlitz mit dunkler verfärbten Flecken zu enthüllen. «Das ist der Heilige Cuthbert», sagte Eadred mit
vor Rührung bebender Stimme. «Das ist der selige, hochheilige, inniggeliebte Cuthbert. O du gütiger Gott», er schaukelte auf
seinen Knien vor und zurück, «das ist wahrhaftig der Heilige Cuthbert.»
|91| Bis zum Alter von zehn Jahren war ich mit Geschichten über den Heiligen Cuthbert aufgewachsen. Ich hatte erfahren, wie er
eine Gruppe Seehunde das Psalmensingen gelehrt hatte und wie die Adler ihm Nahrung auf die kleine Insel vor Bebbanburg gebracht
hatten, auf der er eine Zeit lang in Einsamkeit lebte. Er konnte Stürme durch seine Gebete zum Erliegen bringen und hatte
ungezählte Seeleute vor dem Ertrinken gerettet. Engel besuchten ihn, um sich mit ihm zu unterhalten. Einmal hatte er eine
Familie gerettet, indem er den Flammen, die ihr Haus verschlingen wollten, befahl, in die Hölle zurückzukehren, und das Feuer
war wie durch ein Wunder erloschen. Er lief in das winterliche Meer, bis ihm das Wasser bis zum Hals reichte, betete so die
ganze Nacht, und als er in der Morgendämmerung an den Strand zurückkehrte, war seine Mönchskutte trocken. Während einer Dürre
ließ er Wasser aus dem ausgedörrten Grund sprudeln, und als Vögel die frische Gerstensaat stahlen, befahl er ihnen, sie zurückzubringen
– und sie gehorchten. Jedenfalls erzählte man mir das. Er war zweifellos der wichtigste Heilige Northumbriens, der Heilige,
der über uns wachte und an den wir unsere Gebete richteten, sodass er sie in Gottes Ohr flüstern konnte, und nun lag er hier
vor uns in einer geschnitzten, goldbeschlagenen Ulmentruhe, flach auf dem Rücken, mit riesigen Nasenlöchern, leicht geöffnetem
Mund, eingefallenen Wangen und fünf gelbschwarzen Zähnen, von denen sich das Zahnfleisch zurückgezogen hatte, sodass sie aussahen
wie Tierfänge. Einer der Fänge war abgebrochen. Seine Augen waren geschlossen. Zu den Besitztümern meiner Stiefmutter hatte
der Kamm des Heiligen Cuthbert gehört, und sie hatte gern erzählt, dass sie in den Zinken des Kamms ein paar Haare des Heiligen
gefunden hatte und dass diese Haare dieselbe Farbe hatten wie allerfeinstes |92| Gold, aber die Haare dieser Leiche waren pechschwarz. Es war lang, strähnig und aus der hohen Stirn und von der Mönchstonsur
weggestrichen. Eadred rückte vorsichtig die Mitra wieder zurecht und beugte sich dann vor, um den Rubinring zu küssen. «Ihr
werdet bemerkt haben», sagte er, die Stimme heiser vor lauter Erregung, «dass sein heiliges Fleisch unverwest ist», er unterbrach
sich, um eine der knochigen Hände des Heiligen zu streicheln, «und dieses Wunder ist ein sicheres Zeichen für seine Heiligkeit.»
Er beugte sich erneut vor, und dieses Mal küsste er den Heiligen mitten auf die geöffneten, eingeschrumpften Lippen. «Oh,
du allheiliger Cuthbert», betete er laut, «führe und leite uns und bringe uns zu deiner Herrlichkeit in Seinem Namen, der
für uns gestorben ist und
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