Die Herren vom Berge: Historischer Kriminalroman (German Edition)
überhaupt getroffen? Ist er ihr nachgeschlichen? Wir wissen noch nicht einmal absolut sicher, ob Kunekes Boot drüben losgemacht wurde oder ob es sich losgerissen hat.«
Agnes klang gereizt. Es war nicht nur wegen des Wetters. Warum musste Ludolf diesen unberechenbaren Schmied immer wieder verteidigen? Er war verdächtig und hatte die Möglichkeit zu dem Mord gehabt. Ludolf hätte sich wohl Marie als Mörderin gewünscht. »Aber was für eine Rolle spielt der Händler?«
»Er ist wohlhabend, einflussreich. Ihr gefällt die Aussicht auf Reichtum, auf ein sorgenfreies Leben, auf die Freiheit, die ihr durch das Geld möglich wird.«
»Aber sie schien ihn doch abzuweisen.«
»Nur um des Anstands willen. Sie hat ihre richtigen Gefühle verborgen und ist mit ihm durchgebrannt. Denn der Händler war seit dem Sonntag von Kunekes Verschwinden nicht mehr hier. Obwohl er über Wochen jeden Sonntag zu Besuch kam, wie der Pater sagte. Warum fällt sein Fernbleiben mit dem mysteriösen Verschwinden seiner Zukünftigen zusammen?«
»Ohne Kinder? Ohne Nachricht? Einfach so?«
»Weißt du, was in Kunekes Kopf vorgeht?«
»Natürlich nicht. Genauso wenig wie du. Aber ich habe mit ihrer Freundin gesprochen, und die kann sich das nicht vorstellen. Außerdem bin ich auch eine Frau, die sich besser in eine andere Frau hineinversetzen kann als du. Du verstehst von solchen Sachen nichts.«
Agnes schrie leise auf. Irgendwo in der Nähe war ein Blitz eingeschlagen, denn der Donner folgte schnell und sehr laut. Sie hatte die Hände gegen die Brust gepresst und atmete stoßweise. Tapfer kämpfte sie um Beherrschung. Sie wollte Ludolf keinen neuen Anlass zum Spott geben. Er kannte keine Grenze, wenn er etwas gefunden hatte, das er mit seiner beißenden Ironie zerpflücken konnte. Damit hat er schon einige Leute verprellt. Solche Späße waren eben nicht jedermanns Sache.
Ludolf beobachtete die zutiefst verstörte Agnes. Ihr ganzer Körper war seit dem letzten Donnerschlag angespannt und verkrampft. Ihre Hände zitterten. Er kannte diese Zeichen von seiner Schwester. Früher, als diese noch klein war, hatte sie bei jedem Gewitter geweint und sich bei den Erwachsenen in den Armen verkrochen oder sich unter ihrem Bett versteckt. Später war diese Angst zwar geringer geworden, aber der unruhige und nervöse Blick war bis heute geblieben. Ludolf ging auf Agnes zu. Es mochte es nicht, sie leiden zu sehen. Warum kreisten seine Gedanken bloß so viel um das Mädchen, mit dem er sich andauernd in den Haaren lag? »Kann ich dir helfen?«
Sie sah, dass er auf sie zukam und seine Hand auf ihren Arm legen wollte. Mit scharfer, schriller Stimme zischte sie: »Fass mich nicht an! Mir geht es gut. Der Tag war nur sehr anstrengend.«
Ludolf hob die Hände. Eigentlich hätte er mit der Antwort rechnen müssen. Ihre Augen funkelten drohend. »Ich will dir nicht zu nahetreten, bestimmt nicht. Ich möchte dir nur helfen.«
»Ich brauche deine Hilfe nicht!« Sie wollte sich am liebsten in ihrem Bett verkriechen, die Decke über den Kopf ziehen und sich vorstellen, sie wäre im Stift in Möllenbeck; hinter dicken, sicheren Mauern.
Ein gewaltiger Donnerschlag ließ sie wieder zusammenfahren. Der Blitz musste abermals ganz in der Nähe eingeschlagen sein. Und Agnes schrie wieder, und diesmal nicht nur einmal, sie konnte vielmehr nicht mehr aufhören. Sie schrie und schrie.
Ludolf sprang zu ihr hin und nahm sie vorsichtig in den Arm. Agnes war wie betäubt, sodass sie keine Gegenwehr leistete. Er versuchte, beruhigend auf sie einzureden. Er fand Worte, die er sonst nie zu benutzen gewagt hätte. Er drückte sein Gesicht in ihr dichtes Haar und flüsterte ihr liebevoll ins Ohr. Es war wie ein betörender, angenehmer Zwang, er konnte und wollte nicht aufhören.
Langsam ließ die Panik bei Agnes nach. Aus dem Schreien wurde ein Stöhnen. Schließlich blieb nur noch ein Schluchzen übrig. Ihr Zittern hörte auf, und Ludolf fühlte, wie sie sich in seinem Arm immer mehr entspannte. Sie nahm schließlich die Hände wieder vom Gesicht und lehnte ihren Kopf erschöpft gegen seine Schulter. Erst nach und nach wurde ihr bewusst, wo sie sich befand. Aber sie mochte ihn nicht fortstoßen. Sie brauchte jetzt dringend jemanden, bei dem sie Schutz und Zärtlichkeit fand. Da niemand sonst da war, musste sie sich momentan mit der schlechtesten Möglichkeit zufriedengeben. Sie konnte aber kaum glauben, was sie da von ihm hörte: Ich hab’ dich so lieb. Ich werde immer
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