Die Herren vom Berge: Historischer Kriminalroman (German Edition)
ganz offen darüber, wieder zu heiraten. Ich glaube, sie hatte dabei den Tuchhändler im Sinn. Aber dann, so um Ostern, wollte sie plötzlich nicht mehr darüber reden. Ich habe nicht wieder versucht, das Gespräch auf so etwas Persönliches zu lenken. Aber irgendetwas hat sie verwirrt, irgendetwas ließ sie auf Abstand gehen. Aber jetzt frag mich bitte nicht, was. Kuneke hat nie etwas angedeutet.«
»Du kannst mir also auch nicht viel mehr sagen«, kam es enttäuscht.
»Eigentlich nicht. Der Vater von deinem sogenannten Ehemann könnte vielleicht noch etwas wissen.«
»Ludolfs Vater? Was hat denn der damit zu tun?« Agnes machte ein völlig erstauntes Gesicht. Der kannte Leute hier von der Schalksburg? Woher denn? Hildegard grinste still vor sich hin und beobachtete mit Vergnügen die Fragen, die sich in den vor Überraschung aufgerissenen Augen der jungen Frau abzeichneten.
»Kennst du die Familie vom Turme?«
»Sicher. In Möllenbeck hatte sie das Turmamt, eines der vier Ämter, in die die Güter des Stifts eingeteilt sind. 20 Aber die Familie ist mittlerweile völlig verarmt. Nur ein paar Mitglieder leben noch als Pächter in der Nähe.«
»Genau. Vor einer ganzen Reihe von Jahren wurde das Turmamt der Familie Post übertragen. 21 Damit beginnt eigentlich die Geschichte von Mechthild Fischer. Oder wie sie damals noch hieß: Mechthild vom Turme. Als das Turmamt in andere Hände wechselte, war Mechthild um die zehn Jahre alt und bekam die ganze Tragödie bewusst mit. Von Jahr zu Jahr verarmte die Familie immer mehr. Die vom Turm hatten keine glückliche Hand mit der Verwaltung der Ländereien und Güter gehabt. Sie lebten immer noch wie stolze Ritter auf dem Gutshof mit dem großen Wohnturm, waren aber so arm wie ihre Pächter. Mechthild wuchs mit dieser Einstellung auf: Sie war von Adel, wenn auch von einem niederen, aber immer noch etwas Besseres als die Bauern, die auf dem Hof arbeiteten. Schließlich musste die Familie vom Turm das Amt abgeben und den großen Gutshof in Möllenbeck verlassen. Von einem Tag auf den anderen lebten sie selbst in den vorher verachteten Verhältnissen. Mechthild wurde sehr verbittert, besonders gegen die eigenen Eltern; denn ihnen gab sie die Schuld daran, dass sie jetzt wie eine Magd aufwachsen sollte. Mit vierzehn Jahren war sie plötzlich verschwunden, keiner wusste, was mit ihr geschehen war. Zwei Jahre später tauchte sie unvermittelt wieder auf, war verheiratet und hatte ein kleines Kind im Arm, Kuneke.«
Hildegard seufzte tief. Die Geschichte dieser Frau war alles andere als unterhaltsam.
»Am schlimmsten ist so etwas doch immer für die Eltern. Sie sorgen sich um ihr Kind. Vergehen fast vor Angst. Und plötzlich ist die Tochter wieder da, nur um zu sagen, dass sie jetzt selbst Mutter ist. Später kam dann mehr von der Geschichte heraus. Mechthild war aus Trotz gegen ihre Eltern geflohen, sie wollte sie für ihr Versagen bestrafen. Ein paar Monate lang zog sie mit fahrenden Musikanten umher. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was sie alles getan hat, um sich etwas zu essen zu verdienen. Hier unten im Ort verliebte sie sich in einen jungen Burschen namens Henricus. Der machte ihr ein Kind, war aber dann Manns genug, sie auch zu heiraten. Gegen den Willen seiner Eltern; denn wer will schon eine umherziehende junge Dirne zur Schwiegertochter. Ich glaube, später hat es Henricus oft genug noch bereut.«
»Kennt Kuneke die Geschichte ihrer Mutter?«
»Ich denke doch.«
»Könnte es sein, dass es bei Kuneke einen entsprechenden Anlass gab? Etwas, das sie so verbittert oder enttäuscht hat, dass sie davongelaufen ist?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie ähnelt ihrer Mutter nur sehr wenig. Die hat sich reichlich viel auf ihre Abstammung eingebildet. Nein. Kuneke würde nie und nimmer ihre beiden Kinder zurücklassen. Wenn sie fort ist, dann nur, weil sie jemand mit Gewalt dazu gezwungen hat.«
Agnes stand auf und ging in der Stube umher. In ihrem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander. Nichts Neues über die Verdächtigen wie den Schmied oder den Amtmann. Nur etwas über die Jugendsünden der Mutter. Langsam wusste sie nicht mehr, was sie denken sollte. Diese Mission hätte ein erfahrener Richter oder sogar ein Inquisitor durchführen sollen. Die wussten doch viel besser, was zu tun war. Sie war nur eine Scholasterin, die krampfhaft versuchte, das Dunkel um Kuneke zu erhellen. Und dazu kam diese Geheimniskrämerei. Sie konnte noch nicht einmal offen die Fragen
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