Die Herren vom Berge: Historischer Kriminalroman (German Edition)
das hatte er gespürt.
In dieser Nacht bekamen die beiden kaum Schlaf. Erst weit nach Mitternacht fielen sie in einen leichten Schlummer, unruhig und voller bittersüßer Träume von Liebe und Enttäuschung, Begehren und Ablehnung.
Ludolf sucht das Weserufer ab
Mittwoch, 7.9.1384
Ludolf ächzte und stöhnte, als er versuchte, das sich um die eigene Achse drehende Boot unter Kontrolle zu bringen. Das war leichter gesagt als getan, denn er war mittlerweile direkt zwischen den beiden Bergen, dort wo die Strömung am stärksten war. Die Weser machte hier eine Kurve nach links und trieb ihn gegen das steile und felsige rechte Ufer.
Nach der Morgenmahlzeit hatte Agnes ihm den Umgang mit dem Boot erklärt, so wie es ihr der Fischer gestern gezeigt hatte. Ludolf hatte Mühe, ihren Erläuterungen zu folgen. Wenn ein Anfänger einem anderen Anfänger etwas beibringen will, geht es bestimmt schief. Aber so schwer sollte die Handhabung doch nicht sein. Von wegen! Als er langsam in die Strommitte kam, begann der Kahn sich zu drehen. Er wusste plötzlich nicht mehr, wo vorne und hinten war.
Dann, durch die plötzliche Verbreiterung des Flusses nach dem Engpass, beruhigte sich das Wasser wieder. In der flachen Ebene wurde die Weser fast zu einem stehenden Gewässer. Hier schien es auch eine Furt zu geben. Der Staken tauchte höchstens drei Ellen tief ein. Und an beiden Ufern war der Pflanzenbewuchs von den Tieren und den Fuhrwerken zermalmt worden, sodass nur der Uferkies und nackte Erde übrig waren. Hier war es sehr viel einfacher, voranzukommen. Links zweigte ein kleinerer Arm ab, die breitere Fahrrinne in der Mitte wurde sicherlich von den Lastkähnen benutzt. Ein Stück weiter musste dann der weit ausholende rechte Weserarm zu finden sein, den er vom Weg am Berg aus gesehen hatte.
Der abzusuchende Weserarm führte in einem Bogen weiter nach links um den Berg herum. Eine Strömung war kaum noch zu spüren. Dafür wurde der Boden weicher, morastig und lehmig. Wenn er sich auf das Holz stützte, sank es ganz langsam immer tiefer ein.
Ludolf kam an einigen Reusen vorbei, die ein Fischer hier aufgestellt hatte. Das Ufer war mit Schilf und hohem Gras bewachsen und sah aus wie ein großer Sumpf. Bei Hochwasser wurde dieses Gebiet bestimmt regelmäßig überflutet. Ein paar einzelne Weiden und Birken erhoben sich zwischen den freien Flächen mit Gras und Büschen und dem Röhricht. In einigen Bäumen hingen noch Stroh und Unrat von der letzten Überflutung. Die grünen Wände verhinderten einen weiten Blick ins Land. Selbst die Kirchtürme von Minden waren nicht zu erkennen.
Irgendwo hier hatte der Fischer Poggendorf das Boot gefunden, mit dem Kuneke am Tag ihres Verschwindens übergesetzt war. Aber was wollte Ludolf eigentlich hier finden? Ihre verwesende Leiche? Eine Hand, die vom langen Liegen im Wasser aufgequollen und von Fischen angefressen war? Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Trotz der Wärme bekam er eine Gänsehaut.
Die Nachbarn hatten hier schon alles abgesucht. Wenn es etwas Auffälliges gegeben hätte, wäre es ihnen bestimmt nicht entgangen. Außerdem war es schon zwei Wochen her. Genug Zeit für Wasser und Tiere, die letzten Spuren zu verwischen. Aber man konnte ja nie wissen. Niemand ging spurlos verloren. Vielleicht hatten die anderen einen Anhaltspunkt übersehen. Sie waren in Eile gewesen. Oder sie waren nicht weit genug in diesen Arm hineingefahren. Vielleicht würde er doch auf eine Kleinigkeit stoßen, die verraten würde, was mit der armen Frau geschehen war.
Ach, Agnes. Sie hatte in der letzten Nacht auch nicht besser geschlafen als er. Erst hatte sie noch eine ganze Weile in ihrer Kammer herumhantiert, später hörte man dann, wie sie sich unruhig auf dem knarrenden Bettgestell hin und her wälzte. Sie war genauso aufgewühlt und verwirrt gewesen wie er. Sie kannten einander schon so lange. Aber die gegenseitige Abneigung hatte bisher eine unüberwindliche Trennungslinie gebildet. Nun plötzlich schien diese Grenze verwischt, schien sich aufzulösen.
Ludolf stakte gedankenversunken weiter.
Da war doch etwas! Irgendetwas Rötliches befand sich dort im Schatten einer Weide, das nicht hierhin gehörte. Blüten konnten das nicht sein. Welche Sumpfpflanze sollte solch auffällige Blätter haben? Ludolf schob das Boot in die Richtung. Zwischen den Wurzeln und dem Gras hing ein Stück Stoff oder ein Kleidungsstück – man konnte es so schlecht erkennen. Es sah eigenartig aus. Als ob in den Stoff
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