Die Herren vom Berge: Historischer Kriminalroman (German Edition)
auf: »Sei vorsichtig, Ludolf! Er hat ein Messer.«
Erst jetzt bemerkte Ludolf die Waffe des Mannes. Er hatte sie beim Eintreten völlig übersehen. Ein schmales, spitzes Eisen, nicht besonders lang, aber um jemanden damit umzubringen, reichte es. Um sich gegen einen wütenden, bewaffneten Kerl zur Wehr zu setzen, brauchte man die Erfahrung eines geübten Kämpfers, die er natürlich nicht hatte. Zwischen Ludolf und dem vor Wut kochenden Mann lag ein umgestürzter Stuhl. Ludolf angelte sich das Möbelstück, ohne den wachsamen Blick von Dudenhausen zu wenden. Es war ziemlich schwer. Aber es sollte ein guter Schutz gegen die Angriffe des Händlers sein. Ludolf nahm den Stuhl an den Armlehnen und hielt die Stuhlbeine Dudenhausen entgegen.
»Na gut!«, knurrte der, »du willst es ja nich’ anders. Dann schneid’ ich dir auch die Gurgel durch.« Sofort griff der Händler Ludolf an. Er versuchte, am Stuhl vorbeizulangen, um den Gegner zu erwischen. Das Messer wirbelte er gefährlich durch die Luft. Dabei fluchte er wie ein Viehtreiber.
Der junge Mann konnte zum Glück jeden Stoß erfolgreich abwehren. Das Hochhalten des schweren Stuhls strengte jedoch sehr an. Schon nach einigen Augenblicken wurden ihm die Arme lahm. Ludolf atmete tief durch und stieß einen lauten Schrei aus. Die Rückenlehne gegen die Brust gedrückt, stürmte er wie ein losgelassener Stier gegen Dudenhausen los.
Der war über die plötzliche Gegenwehr so erschrocken, dass er sich Stück für Stück in Richtung Fenster zurückdrängen ließ. Er schlug und trat wie von Sinnen gegen die Stuhlbeine.
»Los, Agnes!«, keuchte Ludolf, »lauf jetzt!«
Sie stand wie gelähmt an der Wand. Sie hatte Angst, ihre Beine zitterten. Mit furchtsam aufgerissenen Augen beobachtete sie die beiden Kämpfer. Dass Ludolf sein Leben für sie einsetzte, hätte sie sich nicht träumen lassen. Würde er das auch bei anderen tun, oder begab er sich nur wegen ihr in die Gefahr?
»Geh endlich!«
Erst ganz langsam, dann immer zügiger strebte sie der Tür zu. Die Zeit verging viel zu langsam. Sie war wie betäubt. Nach einer ihr unendlich erscheinenden Zeit hatte sie die Klinke in der Hand, doch zitterte sie so stark, dass sie die Tür kaum öffnen konnte. Mit letzter Kraft riss sie schließlich die Tür auf und stürzte hinaus.
»Bleib hier, du Flittchen!«, schrie Dudenhausen außer sich. Und zu Ludolf gewandt: »Das hättste nich’ tun dürfen. Jetzt biste tot.« Dudenhausen schleuderte das Messer fort und warf sich gegen den Stuhl. Er griff die Beine des Möbels und versuchte, sie zur Seite zu drücken. Die beiden Männer schnauften. Ludolf wich langsam Schritt für Schritt zurück. Er wollte nur noch die Tür erreichen.
Immer fahriger und verzweifelter riss der Händler an den Stuhlbeinen. Sein blutverschmiertes Gesicht war verzerrt. »Nein! Du komms nich’ raus!«, schrie er.
Als Ludolf die Tür gerade erreicht hatte und den Stuhl loslassen wollte, bekam er einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf. Noch ehe er wusste, was mit ihm geschah, wurde ihm schwarz vor Augen, und er brach zusammen.
Die Stadtwache
Agnes dankte Gott in einem Stoßgebet, dass sie dem Irrsinnigen hatte entfliehen können. Ohne Ludolfs Eingreifen hätte sie es wohl kaum geschafft. Der Händler hatte sie dort in der Gästestube in der Falle gehabt. Aber jetzt war Ludolf in Gefahr! Sie musste so schnell wie möglich Hilfe holen. Wo war der junge Bursche geblieben? Bestimmt hatte er sich aus Angst vor seinem jähzornigen Vater versteckt. Draußen auf dem Marktplatz musste es Hilfe geben. Agnes stürzte zur Haustür, prallte gegen den glänzenden Harnisch eines Soldaten und fiel beinahe zu Boden, wurde jedoch im letzten Augenblick von den kräftigen Armen des Mannes aufgefangen.
»Hoppla, werte Frau! Nicht so schnell! Kann ich Euch helfen?«
Erschrocken wollte sie sich aus der unerwünschten Umarmung lösen. Sie wand sich hin und her. Die Hände des Soldaten hielten sie jedoch fest wie Schraubstöcke. Wütend schlug sie gegen die Rüstung. Nach ein, zwei Hieben taten ihr die Hände weh. »Lasst mich los!«, befahl sie ärgerlich. »Was erlaubt Ihr Euch eigentlich?«
»Bitte verzeiht. Ich wollte Euch doch nur retten, schöne Frau. Dieser junge Bursche hat mich zu Hilfe geholt.« Damit zeigte er auf den Sohn des Händlers.
Edmund stand im Hintergrund der Gruppe und machte einen jämmerlichen Eindruck. Nach seinen geröteten Augen zu urteilen, hatte er geweint. Seine Hosen waren staubig und am
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