Die Herrin der Flammen
denn nicht, wer das ist?«
Tempus blickte durch den strömenden Regen auf das ausdruckslose, nasse Gesicht. Es steckte Kraft in dem Jungen, wie in dem enlibrischen Stahl, von dem manche gehofft hatten, er könne hier etwas ändern. Aber genau wie bei dem Stahl war Zips Kraft zu gering und kam zu spät.
Alterslose Augen begegneten sterblichen, die sich ihrer Vernichtung zu sicher waren und nicht um einen Gefallen bitten wollten. Aber noch etwas begab sich zwischen ihnen: die Müdigkeit des jungen Kämpfers, der von zu vielen gejagt wurde und der bereit war, sein Ende durch die Übermacht der Feinde zu finden, war in Hoffnungslosigkeit umgeschlagen. Diese Verzweiflung spiegelte sich im Blick des sagenhaften Unsterblichen, der von Krieg zu Krieg, von Reich zu Reich zog und die Weisesten etwas über den Sieg des Geistes über den Tod lehrte.
Tempus, der die Stiefsöhne gegründet und in den Krieg geführt hatte, bot ein Stillhalteabkommen an, während ein Ultimatum erwartet worden war.
Es schwang etwas Ungewohntes aus der Stimme des Jungen, als er antwortete: »Ja, eine Woche. Ich kann nur versprechen, daß die VFBF es versuchen wird – ich kann nicht für die anderen reden. Es muß genügen. Oder…«
Tempus unterbrach ihn rasch. »Es genügt für dich und die Deinen. Was sie säen, werden sie ernten. Es kann dir mehr bringen, als du erwartest, Zip – einen kaiserlichen Pardon, vielleicht einen Beruf, und du kannst tun, was du am besten kannst, zum Wohl der Stadt, die du liebst.«
»Ich würde sterben für sie, so oder so«, murmelte Zip, denn er hatte verstanden, was Tempus sagte und was ungesagt geblieben war, als ihre Blicke sich getroffen hatten; und er wollte, daß der Geheimnisvolle das wußte. Dann winkte er seine Männer zurück.
Es dauerte nur Augenblicke, bis die Kreuzung Töpfer- und Westtorstraße scheinbar wieder verlassen war. Es dauerte auch nicht länger, auf das Trospferd aufzusitzen und Richtung Echsengasse hinaufzureiten.
Während das Tros an einem Abfallhaufen vorbeitrottete, hinter dem zweifellos einer der kriegerischen Jungen lauerte, dachte Tempus, daß das, was Zip vielleicht bekommen würde, wenn er das Unmögliche möglich machte – eine Koalition der Rebellenkräfte, ja vielleicht sogar eine Aussöhnung –, mehr war, als er auch nur zu träumen wagte: ein Zuhause.
Es gab keine Ablösung für die Stiefsöhne und das 3. Kommando. Die rankanische Garnison war das, was ihr Name sagte: rankanisch. Die Stiefsohnkaserne, die vor fünf Jahren unter schweren Opfern eingenommen worden war, würde leerstehen; die Arbeit der Heiligen Trupps ungetan bleiben. Nur eine Handvoll Höllenhunde würden gegen Therons Bataillon, beysibische Unterdrücker und die Verbrecherkönige der Stadt stehen.
Wenn Zip es nur zuließe, würde Tempus eine Reihe von Problemen lösen, die noch vor Minuten unlösbar ausgesehen hatten, und dem Jungen den einzigen Gefallen tun, den ein Mann einem anderen tun kann: ihm eine Starthilfe bei der Lösung seiner eigenen Probleme geben, einen eigenen Stand, eine Welt zu gewinnen – einen Neuanfang.
Wenn Tempus seine eigenen Leute davon abhalten konnte, den charismatischen jungen Rebellenführer in der Zwischenzeit zu töten. Und wenn Zip sich in Freistatt, wo Haß und Furcht als Respekt angesehen wurden, nicht so viele Feinde geschaffen hatte, daß ein Anschlag auf ihn, egal was Tempus tat, so sicher war wie der nächste Donner von Sturmbringers Begrüßungswetter.
Als dieser Donner krachte, kanterte Tempus bereits durch die Echsengasse, auf dem Weg zum Wilden Einhorn, wo ein Dämon namens Schnapper Jo hinter dem Schanktisch bediente und von wo aus sich Gerüchte so rasch wie Lauffeuer verbreiten ließen.
Schnapper Jo war ein Dämon mit grauer, warziger Haut und gelblichen Zahnstummeln. Sein orangefarbenes buschiges Haar stand in alle Richtungen, und seine Augen blickten in beide Richtungen gleichzeitig, was bestimmte Gäste in Verzweiflung bringen konnte, weil sie nicht wußten, auf welches sie sich konzentrieren sollten, wenn sie ihn anflehten, doch einmal anzuschreiben.
Schnappers Job, tagsüber den Schankwirt im Wilden Einhorn zu machen, war die Leistung, auf die er sehr stolz war – und stolz war er darauf, daß er seine Freiheit errungen hatte.
Roxane, die Nisibisihexe, auch Todeskönigin genannt, hatte ihn als ihren Diener beschworen. Aber seine Gebieterin hatte ihn freigegeben, auf ihre Art – das heißt, sie war in letzter Zeit zumindest nicht mehr gekommen,
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