Die Herrin der Kathedrale
schier endlose Kraft in sich.
Beim Anblick des feinen Gesteins in den unteren Wänden des Ostchores vor ihnen begann Meister Tassilo zu grübeln. »Die Wände des Langhauses haben das große Dach zu tragen. Auf ihnen liegt die größte Last. Wir sollten sie deshalb mit größeren Bruchsteinen füllen.«
»Wir müssen auch festeren Mörtel als im Ostchor verwenden«, fügte Uta an und konnte gerade noch einem herumstehenden Trog ausweichen. »Dazu ist der Masse mehr Kalk hinzuzufügen und nur so viele Eier, dass der Mörtel gerade stockt.« Sie nahm sich vor, am Nachmittag die Kalkvorräte zu überprüfen und dann mit dem Vogt zu sprechen.
»Wichtig ist, Gräfin, dass wir den Boden, auf dem ein Fundament gebaut wird, stets prüfen, bevor wir entscheiden, wie wir es bauen. Und zwar für jeden einzelnen Gebäudeabschnitt. Bisher hatten wir es stets mit felsigem Untergrund zu tun und konnten die Steinschicht direkt auf den Untergrund auftragen.«
»Und wie verfahren wir bei erdigem Boden?«, fragte Uta.
»Mit Holzpfählen, die wir ähnlich einer Palisade in den Boden rammen, allerdings zur Gänze, und erst auf diese die Steinschicht aufsetzen. Tun wir das nicht und das Erdreich bewegt sich, ist keine Mauer mehr sicher.«
Uta holte tief Luft. »Der Alptraum eines jeden Werkmeisters! Risse im Mauerwerk!«
»Aber lasst uns nicht den Teufel an die Wand malen«, mahnte Tassilo. »Lieber möchte ich Euch beim Ostchor etwas zeigen.« Dort angekommen, klatschte Uta begeistert in die Hände. Vor sich sah sie einen Hebebaum, der aus zwei schräg zueinander gestellten Holzarmen bestand, die mindestens zwanzig Fuß hoch in die Luft ragten, wo sie aneinanderstießen. Dort fiel auch ein Seil auf den Boden hinab, in welches Rollen eingebunden waren. »Ein Polyspastos!«, rief sie freudig aus. Tassilo nickte. »Vitruvs Hebemaschine. Wir haben ihn noch gestern Abend aufgestellt.«
Beeindruckt trat Uta näher und begann zu murmeln: »Man richtet zwei Balken zu und verbindet sie an ihrem oberen Ende mit einem Bolzen. Sie sollten so aufgestellt werden, dass sie unten auseinanderspreizen. Sie werden von Halteseilen, welche rings um sie herum gespannt sind, aufrecht gehalten« 22 , zitierte sie die entsprechende Textstelle Vitruvs und trat näher an die Hebemaschine heran.
»Ich habe ihn anhand der Angaben auf einem Pergament nachbauen lassen«, erklärte Tassilo, während Uta noch immer staunte.
»Oben, wo die Balken zusammenlaufen«, murmelte sie weiter, »befestige man einen Flaschenzugkolben mit fünf Rollen. Das Ende des Seiles vom Flaschenzug wird an der Welle befestigt. Dreht man an der Wellenkurbel, so wird sich das Seil um die Welle schlingen und die Last hochziehen.« 23
»Damit wir auch schwere Lasten anheben können, habe ich anstatt einer Kurbel ein Tretrad bauen lassen.« Tassilo ging zu dem an der Seite des Geräts angebrachten riesigen Holzrad hinüber. »Das wird uns später, wenn wir die oberen Mauern erreichen, einige Steighilfen und Barren ersparen.«
Uta strich fasziniert mit der Hand über das Außenholz des Rades. »Ihr habt Vitruvs Polyspastos weiterentwickelt, Meister Tassilo. Das ist unglaublich!«
Zur Demonstration begab sich Tassilo in das Tretrad. »In ihm können zwei Personen zugleich treten«, erklärte er und machte ein paar kraftvolle Schritte. Worauf sich die Seile spannten und die Hebemaschine einen mit Sand gefüllten Trog anhob. Uta lief begeistert nach vorne und beobachtete, wie der Trog immer höher hinaufgezogen wurde.
Meister Tassilo, der aufgrund der körperlichen Anstrengung heftiger atmete, sprach dennoch weiter: »Die Übersetzung des Kranes beträgt ein Dreizehntel, so dass durch das Treten einer Person Lasten bis zum Dreizehnfachen des eigenen Gewichts gehoben werden können.«
Noch immer gefesselt von dem Trog, der mittlerweile hoch über ihrem Kopf schwebte, rief Uta erregt: »Damit können wir die großen Steine für die Außenwände viel schneller nach oben befördern!«
Tassilo verlangsamte seinen Schritt. »Und wir schonen unsere Arbeiter.«
»Die Krankenstation des Moritzklosters wird uns dankbar sein, wenn gerade jetzt, wo Schwester Margit an der Ostgrenze ist, weniger Verletzte gebracht werden.« Uta ging wieder zum Tretrad zurück. »Wir müssen die Hebemaschine vor Nässe und Frost schützen, damit das Holz keinen Schaden nimmt.«
Keuchend trat Tassilo aus dem Rad. »Sie ist aus Eichenholz gemacht, das im Winter bei Vollmond geschlagen worden ist. Es enthält daher
Weitere Kostenlose Bücher