Die Herrin der Kathedrale
ihren Schützling.
Hazecha erwiderte die Umarmung so fest, wie sie es zuletzt bei der Mutter und Uta getan hatte.
»Ihr solltet Euch nun auf den Weg machen«, meinte Edda schließlich nach einer Weile.
»Gewiss«, entgegnete Hazecha mit brüchiger Stimme und wischte sich mit dem Umhang eine Träne ab.
»Meidet auf jeden Fall die Wälder. Jetzt, mit Beginn des Herbstes, findet Ihr auch am Rand des Waldes Beeren«, empfahl Edda besorgt. »Schlaft fern der wilden Wölfe und schließt Euch alsbald einer Reisegemeinschaft an. Und betet, so wie ich es für Euch tun werde!«
Plötzlich war ein Krachen am anderen Ende des Hofes zu hören.
»Schnell!« Edda öffnete das Portal und schob Hazecha hindurch.
Die griff noch einmal nach der vertrauten Hand und drückte sie fest. »Danke, Schwester Edda. Für alles.«
Schon war das Portal zum Stift Gernrode wieder verschlossen, und Edda nahm schwer atmend auf dem Hocker Platz, der einer gewissenhaften Portaldienstlerin am Ende einer langen Nacht zustand.
»Schwerste Verbrechen durch Beschädigung des Lebens eines Delinquenten zu sühnen ist königlich-kaiserliches Vorrecht«, trug sie mit männlich klingender Stimme vor und trat, eine Wachstafel in den Händen, feierlich um das Pult herum. Dabei musste sie über sich selbst und ihre angenommene Rolle lächeln, rief sich aber im nächsten Moment wieder zur Konzentration. »Niemandem sonst steht es zu, das von Gott geschenkte Leben zu richten, sofern der Kaiser ihn nicht dazu benannt hat.«
Mit einem tiefen Atemzug sog Uta die frische Morgenluft ein, die durch das geöffnete Fenster in ihre Kammer strömte, und schloss die Augen. »Als Erstes wird Uta von Ballenstedt angehört«, sprach sie weiter und gab sich nun vollends ihrem Tagtraum hin. Sie sah sich und Hazecha im Ostchor der neuen Kathedrale. Vor dem Altar desselben standen Kaiser Konrad und Kaiserin Gisela. Dahinter Hofkaplan Wipo, der das Gesprochene Wort für Wort protokollierte. Einige Schritte entfernt von ihnen, auf gleicher Höhe und von einem dunklen Schatten umgeben, stand Esiko in Kettenhemd und lederner Hose. Das verschwitzte, strähnige Haar klebte ihm wie nach einem Kampf an Hals und Schläfen. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, und tiefe Falten zogen sich durch sein Gesicht.
»Tretet vor mich!«, sprach sie die erwarteten Worte des Kaisers und schritt mit geschlossenen Augen vor den Kamin ihrer Kemenate, der in diesem Moment den Altar des Ostchores darstellte. Ihr Atem ging heftiger, obwohl sie wusste, dass alles nur ein Traum war. »Meine Anklage lautet auf Totschlag, hinterhältigen Totschlag, Kaiserliche Hoheit«, begann sie die Worte, die sie zuvor sorgsam gewählt und dann auf einer Wachstafel niedergeschrieben hatte, vorzutragen. Einleitend berichtete sie von dem Tag, an dem die Mutter so schlimm zugerichtet worden war – wofür sie Ernas Bericht und ihre eigenen Erinnerungen zusammengefasst hatte. »Es begann mit mir, die einer Anweisung des Vaters zuwiderhandelte und den Schutz der Mutter dafür erfuhr.« Uta berichtete zudem von den Schreien der Mutter und dass diese nicht einmal mehr imstande gewesen war, die ihr von Erna gereichte Suppe zu essen.
»Als Beweismittel trägt nun Hazecha von Ballenstedt ihre Zeugenaussage vor«, sprach sie weiter und tauschte in Gedanken einen Blick mit der jüngeren Schwester. Die Eideshilfe, hatte Uta sich während der vergangenen Tage überlegt, würde sie nur für den Fall ins Spiel bringen, dass nach der Zeugenaussage noch Zweifel bestünden. Ihr vornehmlichster Wunsch war es, das Gericht aus eigener Kraft und ohne Fürsprache der Kaiserin zu überzeugen.
Als Nächstes bat der Kaiser in ihrem Traum Hazecha darum, zu sprechen. Ohne ein einziges Mal zu Esiko hinüberzuschauen, trat sie festen Schrittes vor. »Es war am frühen Abend«, begann Hazecha. »Und ich war keineswegs müde, als ich die Kammer meiner kranken Mutter, der Gräfin Hidda von der Lausitz, betrat, ihr zuerst die Hand streichelte und danach in deren Gewandtruhe schlüpfte, um mich zu verstecken. Das tat ich oft, denn es freute mich, wenn meine Amme Gertrud in der ganzen Burg nach mir suchte.« Den Hauptteil, die Beobachtung und die Bedrängnis der kleinen Schwester in der Truhe, übersprang Uta, denn diesen schrecklichen Teil des Berichtes wollte sie erst wieder am Tag von Christi Geburt hören müssen – wenn es unabdingbar war. »Er schimpfte, dass sie eine Ungehorsame sei, bis die Kraft aus ihren Armen wich und sie sich nicht mehr
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