Die Herrin der Kathedrale
die vor plötzlich hereinbrechenden Unwettern und Kälte Schutz boten. Die geistlichen Würdenträger waren von den Tragestühlen wieder auf die Pferderücken zurückgewechselt. Die Reittiere wurden von Knechten auf den inzwischen nur noch mannsbreiten Pfaden an den Zügeln geführt, um zu verhindern, dass die Tiere, geängstigt von den steilen Abhängen, scheuten und ihre Reiter abwarfen.
Die Vorhut hatte bereits vor einigen Tagen den höchstgelegenen Teil des Passes überquert, als der hintere Teil des Zuges mit dem Hofstaat der Königin sich erst in Bewegung setzte. Als der Aufritt zur Breonen-Höhe geschafft war, wurden Messen für die ersten Verunglückten gelesen, die ihre Pferde auf den schmalen Pfaden nicht hatten in Zaum halten können. Mühsale und Gefahren hielten den Zug im Griff, als er endlich den Höhenort Brixen erreichte, der aus einigen wenigen Hütten bestand. Von dort nach Bozen lag der Hohe Ritten vor ihnen: eine schwer gangbare Stelle, deren Überquerung gefürchtet war. Das Vorankommen auf der ohnehin gefährlichen Strecke wurde zusätzlich von plötzlichen Wetterumschwüngen, Nebel und Steinschlag behindert. Durch das einsetzende Tauwetter wurden Bergbäche zu reißenden Strömen, und abgehende Schlamm- und Gerölllawinen forderten weitere Opfer. Wer sich nicht zu stolz dafür war, legte den schmalen Pfad bis nach Bozen auf Händen und Füßen zurück, um nicht auszurutschen und in den Abgrund zu stürzen. Inzwischen hatte der Zug mehr als einhundert Opfer zu beklagen.
In ihrer ersten Nacht in einer fest überdachten Unterkunft auf dem Hohen Ritten träumte Uta, dass ein Unwetter sie in die Schlucht riss – und dass es lediglich der Königin gelang, sich an einer Kettenbrücke festzuklammern und den Berg zu überqueren. Uta sprach Gebet um Gebet und hatte zudem alle Mühe, die leidende Elisabeth zu trösten, die Esiko schon einen ganzen Mondumlauf nicht mehr gesehen hatte und seitdem nicht mehr von Utas Seite wich. Mechthild las zur Beruhigung aller Hofdamen aus den Epen der Roswitha von Gandersheim vor.
In Bozen angelangt, verschnaufte der Zug zwei ganze Tage, bevor er ins Etschtal aufbrach. Die mitreisenden Heilkundigen hatten alle Hände voll zu tun, gebrochene Gliedmaßen zu schienen, und unter den Hofdamen grassierte eine Schwäche. Mechthild krächzte nur noch und klagte über stechende Schmerzen in den Fingern und im Rücken, Elisabeth wimmerte vor sich hin, und Uta vermochte wegen starker Halsschmerzen kaum zu sprechen. In dieser Verfassung wünschte Uta sich jemanden aus der Familie herbei, der sie tröstend in den Armen wiegte.
Mit mehreren Tagen Verspätung hielt der Tross schließlich auf die Veroneser Klause zu. Dort verengte sich das Etschtal erneut zu einem schmalen Pfad. Um diesen letzten Abstieg zu bewältigen, mussten alle Reiter absitzen und ihre Tiere an den Zügeln hinabführen. Die Ochsen wurden über Seile miteinander verbunden – ihre geeinte Kraft sollte den Absturz eines einzelnen Tieres verhindern. Hunde und Ziegen fanden ihren Weg noch am leichtesten.
Der Zug war seit Verlassen das Winterlagers nun schon einen ganzen Mondumlauf unterwegs. Die meisten im Tross sahen aus, als hätten sie bereits in einer Schlacht gekämpft. Utas Schmerzen hielten unverändert an. Die Hoffnung, mit Wipo sprechen zu können, hatte sie für die Zeit im Hochgebirge aufgegeben. Zu sehr plagte sie das Kältefieber, das sich im Tross ausgebreitet und während des Abstiegs zu ungeplanten Aufenthalten geführt hatte. Den anderen Hofdamen erging es nicht besser. Mechthild musste sich laufend übergeben, und Elisabeth jammerte über Rückenschmerzen.
Es war der Tag des Festes des heiligen Barbatus, als sich der schmale Pfad durch die Klause verbreiterte. Dennoch wagte niemand aufzusitzen, um den Körper für den Rest des Weges zu schonen. Die ersten Strahlen der Frühlingssonne stahlen sich durch graue Gewitterwolken, da kam der Zugteil mit den Hofdamen ins Stolpern. Eine Lawine aus Schlamm und Geröll war von den ausufernden Fluten eines nahen Wasserfalls auf den Pfad gespült worden. Uta klammerte sich am Hals ihres Pferdes fest, das jedoch gleichfalls Halt suchte und zu tänzeln begann.
»Greift nach den Sträuchern!«, rief jemand.
Uta wandte sich um und sah, wie die anderen Hofdamen und zwei Gräfinnen aus dem Sächsischen hinter ihr strauchelten. Sie vernahm hektisches Wiehern vor sich und machte andere Reisende aus, die wild mit den Armen ruderten. Hinter sich hörte sie
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