Die Herrin der Päpste - Walz, E: Herrin der Päpste
können, ja nicht beistehen zu
dürfen
, obwohl sie nur wenige hundert Schritte von ihm entfernt war, brachte sie fast um den Verstand. Dieser Zustand war noch schlimmer als Gefangenschaft, denn damals hielten Riegel und Schlösser sie zurück. Was, so fragte sie sich, durfte sie jetzt zurückhalten?
Am nächsten Morgen machte Marocia sich, umgeben von mehreren Schichten wärmender Mäntel, auf den Fußmarsch zum Esquilin. Sie hätte die Kutsche nehmen können, aber nach den Jahren der Abwesenheit von Rom genoss sie jeden Schritt auf dem Pflaster der Straßen und Plätze. Ein dünner, feiner Schnee rieselte wie Asche aus einem nebeligen Himmel, und als sie um die Ecke zum früheren Pantheon bog, trieb ihr der kalte Wind die Flocken ins Gesicht.
Sie wünschte sich, Lando wäre jetzt bei ihr. Sie hatte in ihrem Leben so vieles allein getan, in eigener Entscheidung und Verantwortung, aber in Augenblicken wie diesen sehnte sie sich mittlerweile nach einer Hand, die sie zog, nach einer Stimme, die ihr Mut zusprach, oder einfach nach einem Menschen, der neben ihr herlief. In wenigen Wochen würde sie sechzig Jahre alt werden, und während andere Frauen in diesem enorm hohen Alter längst ihre Scharen um sich versammelt hatten, längst der geliebte Mittelpunkt einer Familie geworden waren, kam sie sich noch immer wie eine Außenseiterin vor. Früher hatte sie dieses Gefühl gemocht, ja, sie war stolz darauf gewesen, gegen den Strom zu schwimmen – und stolz war sie darauf noch immer. Aber heute fühlte sie sich dabei einsam. Ihre Familie war zerrissen und verwickelt. Die Kinder hatten verschiedene Väter, und Marocia war es nie gelungen, der rote Faden, das verbindende Glied zu sein. Sie hatte sich zwar den Ruf erworben, immer für eine Überraschung gut zu sein, aber tiefes Vertrauen brachte ihr wohl keines ihrer Kinder entgegen. Im Grunde war sie kein Familienmensch. Das, so wusste sie heute, war einer der Preise, vor denen ihr Vater Theophyl sie einst gewarnt hatte.
Als sie vor dem Haus Alberics angekommen war, fand sie die Fenster von dunklen Tüchern verhängt. Alda war also tot, und irgendwo hinter diesen Mauern saß ihr verzweifelter Sohn. Seine Worte von damals klangen in ihr nach, nicht erst jetzt, sondern jeden einzelnen Tag seit über zehn Jahren: Sei immer dort, wo ich nicht bin. Nun war sie hier, dicht bei ihm, griff nach dem Türhammer und klopfte gegen das von leichtem Frost überzogene Holz.
Ein Diener öffnete. Sie hatte ihn nie zuvor gesehen, aber er wusste mit ihrem Gesicht etwas anzufangen, denn sofort sagte er: »Ich bedaure, edle Senatrix, aber . . .«
»Ich möchte zu ihm.«
»Er will Euch gewiss nicht sehen.«
Marocia machte einen Schritt nach vorne, aber der Diener versperrte ihr den Weg.
»Zur Seite«, sagte sie.
Er reagierte nicht.
»Aus dem Weg, sage ich.« Sie drängelte sich mit der Kraft einer alten Mutter an ihm vorbei, ignorierte sein Schimpfen und stieg die Treppe ins obere Geschoss hinauf, wo sie Aldas Sterbezimmer vermutete. Wieder einmal hatte sie einsam gekämpft, und wieder hatte sie sich mit Macht und Entschlossenheit durchgesetzt. Aber auf der Schwelle zu ihrem Sohn fielen diese Eigenschaften von ihr ab. Mit weichen Knien betrat sie leise das verdunkelte Gemach.
Alda war noch nicht lange tot. Die Kerzen um sie herum warfen einen Schimmer auf ihre noch rosigen Wangen. Sie war noch nicht für die letzte Ruhe umgekleidet worden, wie es Sitte war. Ein graues leinenes Nachtgewand klebte an ihrem Körper, und die vielen Schweißflecken darauf kündeten von einem schweren, verloren gegangenen Kampf gegen das Fieber. Neben ihrem Bett, mit dem Rücken zu Marocia, kniete Alberic. Sein leises Jammern und Schluchzen erfüllte den Raum, Wortfetzen drangen zu Marocia: »Warum schon jetzt . . . Was habe ich getan . . . Wie soll ich nur . . . Vergib mir . . .« An seiner Seite lag, wie der junge Moses in eine Decke gewickelt und in einen Korb gelegt, ein neugeborenes Kind, offenbar eine Tochter, die kaum hörbar vor sich hin quengelte.
Marocia trat näher. Eine Weile stand sie dicht hinter Alberic, der nichts bemerkte. Dann kniete auch sie sich nieder. Sanft, wie ein säuselnder Wind bloß, hauchte sie: »Siehst du das Lächeln auf ihren Lippen? Glaub mir, sie hat alles und jedem verziehen.«
Alberic wandte sich um. Seine Augen waren gerötet, Inseln in einem bleichen Gesicht. Seine Nase tropfte. Einen kurzen Augenblick lang war er nicht der dreiunddreißigjährige Mann, der Herr von
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