Die Herrin der Päpste - Walz, E: Herrin der Päpste
Hospitalkloster aus ihr zu machen, das dem heiligen Cyriak zu weihen war, dem Lieblingsheiligen Pater Bernards. Nur die beiden Statuen, von denen noch immer niemand wusste, wen sie darstellten, würde sie als spezielle Erinnerung an ihre Kindheit behalten.
Marocia hatte keine Schwierigkeiten, sich in das Leben im Kloster von Fontana Liri einzugewöhnen. Sie war nicht an den Alltag der Schwestern gebunden, sondern teilte sich selbst ein, wann sie ruhen, lesen, arbeiten oder – was auch vorkam – beten wollte. Sie machte ausgedehnte Spaziergänge in die Umgebung Fontana Liris, besuchte einmal im Jahr ihre Tochter Alazais in Capua und vermisste Rom nur noch in jenen Momenten, in denen sie Zeitwanderungen durch ihre Vergangenheit unternahm.
Die Erinnerung war für sie ein Garten, durch den sie spazieren konnte, wann immer es ihr beliebte. Am einen Tag widmete sie sich mehr dem einen Teil, am nächsten einem anderen. Sie schlenderte durch die Jahrzehnte, betrachtete dieses und jenes Ereignis, doch gleich, ob es damals fröhlich oder schmerzlich war, drangen die jeweiligen Gefühle nur noch wie durch einen Schleier an sie heran. Sie berührten sie, aber sanft. Ja, jedes von ihnen, so stark es früher auch gewesen sein mochte, wurde in etwas viel Genießbareres verwandelt: in ein stärkendes oder tröstendes Tonikum. Der Garten der Erinnerung war voll davon.
Auch den Klostergarten gab es noch, und Marocia schien es, als habe er sich nicht verändert, seit sie ihn das erste Mal betreten hatte. Die leichte Hanglage, der milde Wind, die herrlichen Düfte der Blüten, Kräuter und Gewürze . . . Auch die Bank gab es noch, auf der Marocia sich einst mit Blanca unterhalten hatte, als sie noch nicht wusste, dass sie ihre Schwester war. Gleich daneben standen noch immer die zwei Ölbäume, auf deren einem Stamm die Namen der toten Nonnen eingeritzt waren und auf deren anderem Leon verewigt war. Freilich war der Stamm alt und verkrüppelt, aber die Buchstaben, die Marocia einst mit ihrer Haarspange eingekerbt hatte, waren noch zu erkennen.
Darunter standen die Namen so vieler weiterer Menschen. Nicht Blanca oder die Nonnen hatten diese Namen eingeritzt, sondern Marocia selbst, gleich in den ersten Tagen ihres Klosterlebens. Niemand, der ihr je nahe gestanden hatte, fehlte: Lando, Alberic, Clemens, Egidia, Damiane, Octavian und alle die anderen, die ihr Leben eine Spanne an Zeit begleitet hatten. Sogar Theodora und Hugo fanden sich darauf – sie hatte schon sehr lange ihren Frieden mit ihnen gemacht.
Mittlerweile waren alle diese Namen nicht mehr frisch, sondern verkrustet und mit dem Stamm verwachsen. Doch es kamen immer wieder neue hinzu. Suidger von Selz beispielsweise. Ihr Vertrauter und eifrigster Briefeschreiber starb im Winter des Jahres 970, doch erst im darauf folgenden Mai erfuhr Marocia davon, da es niemand für nötig gehalten hatte, sie darüber zu unterrichten. Alazais war es, die ihr die traurige Nachricht schließlich überbrachte.
Alazais . . . Mit ihr hatte Marocia nie Kummer gehabt – bis jetzt. Ihr Name musste von ihr noch im Sommer des gleichen Jahres zu den anderen gesetzt werden. Konnte es sein, dachte Marocia angesichts dieses fürchterlichen Augenblicks, dass diese geliebte Tochter fast fünfzig Jahre alt geworden war und sieben Kindern das Leben geschenkt hatte? Und das, obwohl Marocia sich doch noch so genau an das kleine Mädchen erinnerte . . . Vergangene Jahreszahlen waren in Marocias Alter trügerisch. War es tatsächlich schon fünfzehn Jahre her, dass sie mit Lando eine heitere Hochzeit gefeiert hatte? Dass sie Clemens vor fünfunddreißig Jahren zu Grabe getragen und seinen Vater Sergius vor sechzig Jahren sterbend in ihren Armen gehalten hatte? Dass sich die Pforten der Laterankirche vor beinahe achtzig Jahren für ein Skelett geöffnet hatten? Wer außer ihr dachte noch an all das?
Manchmal schien Marocia ihr Leben ein weites, endloses Meer zu sein, und in anderen Momenten kam es ihr wie eine Pfütze vor. Doch nicht alles war Vergangenheit, auch die Gegenwart hielt noch Überraschungen für sie bereit.
Im Spätsommer des Jahres 972 stand sie auf einer Leiter und pflückte Obst von den Bäumen des Klostergartens, als sie plötzlich hörte, wie sich jemand räusperte. Sie sah nach unten und erblickte – Kaiser Otto, den alle schon jetzt
Magnus
, den Großen, nannten.
»Sind meine Augen alt, oder seid Ihr es wirklich?«, rief Marocia in der ersten Unsicherheit.
»Beides vermutlich«,
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