Die Herrin der Pyramiden
würden wir uns nicht oft sehen. Rahotep hatte seine Wohnung im Palast aufgegeben und war nach Iunu gezogen. Während seiner mehrwöchigen Abwesenheit während der Horusfahrt in den Süden des Landes waren seine Sachen in seine Wohnung im Tempel von Iunu gebracht worden.
Khufu stand neben mir an der Reling der Barke, als wir in Iunu ablegten, um stromaufwärts zu fahren. Er missdeutete meinen sehnsuchtsvollen Blick in Richtung Mempi. »Bist du traurig, Nefrit? Enttäuscht, weil Rahotep dich verlassen hat?«
»Er hat mich nicht verlassen, Khufu.«
»Aber ihr lebt getrennt. Er wird hier im Re-Tempel residieren, und du kehrst nach Mempi zurück.«
»Ich habe in Mempi eine Aufgabe zu erfüllen, Khufu. Ich bin Bauleiterin.«
»Die Baustelle ist von Mempi genauso zu erreichen wie von Iunu.«
Ich schwieg und starrte auf das gemächlich vorbeigleitende Ufer des Hapi. Als ob es dort mehr als Papyrus zu sehen gäbe.
»Dein Gesicht sagt mehr als eine ganze Schriftrolle, Nefrit.«
»Und was verrät es dir?«
»Dass du getröstet werden willst.«
Ich hatte Trost nötig, aber nicht durch Khufu. Denn als ich meine Wohnung im Palast betrat, erwartete mich eine Nachricht von Kamose. Er bat mich um eine sofortige Audienz. Kurz nach meiner Ankunft in der Residenz fuhr ich zur Baustelle der Pyramide hinüber, um Kamose zu treffen.
»Was ist los?«, fragte ich, als ich das Zelt des Bauleiters betrat.
»Die Risse am Fundament verbreitern sich jeden Tag.«
»Gibt es neue Verwerfungen in den Grabkammern?«
»Keine neuen Verwerfungen, Ptah sei Dank. Aber die vorhandenen bereiten mir schlaflose Nächte.«
Kamose zeigte mir die Pläne und seine Berechnungen zur Stabilität des Grabmals. Ich rechnete seine Ergebnisse nach und kam zu ähnlichen Werten. »Wir müssen die Pyramide abstützen!«, sagte ich.
Eine Stabilisierung, wie ich sie mir vorstellte, würde wie eine Verzweiflungstat wirken. Im Gegensatz zu den Kräften, die bei gut fundamentierten und sorgfältig verlegten Steinlagen senkrecht nach unten wirkten, wurde der Druck in der Pyramide durch die im Fundament auftretenden Risse teilweise seitlich abgelenkt. Diese Kräfte wirkten in Richtung der Außenverkleidung und schoben die Steinquader nach außen. Die Verkleidungssteine waren bereits an einigen Stellen gerissen und weggesprengt worden. Mit einem Wort: Die Pyramide stand kurz davor, in sich zusammenzufallen, wie Kamose es vor Monden vorhergesehen hatte!
»Ich hatte eine ähnliche Idee: Ich will einen Gürtel aus Steinlagen um den Pyramidenstumpf legen, der das gleitende Mauerwerk zusammenhalten kann.«
Kamose griff zu einer Schreibbinse und skizzierte seine Idee auf einen Papyrus. Er wollte die Pyramide mit einem dreißig Ellen dicken Steinmantel umgeben, dessen Innenneigung dem Weggleiten der Steinquader entgegenwirken sollte.
»Wenn du einen solchen Stabilisierungsmantel um die gesamte Pyramide legst, dann musst du zuerst die Baurampen abtragen.«
»Der Aufwand ist gigantisch, aber ich habe keine Wahl!«
»Wir haben keine Wahl, Kamose!«
Kamose ließ die neuen Pläne zeichnen, während ich auf meiner eigenen Baustelle nach dem Baufortschritt sah. Während der Wochen meiner Abwesenheit waren die Mauern der Verwaltungsgebäude und des Magazintraktes in die Höhe gewachsen, die Zimmerleute hatten bereits mit dem Zuschneiden der Holzstämme für die Dächer begonnen. Das landwirtschaftlich nutzbare Gelände war geglättet und von Steinen befreit worden. Das Geröll wurde am Flussufer zu großen Haufen aufgeschichtet und würde später für die Befestigung der neuen Frachthafenanlage genutzt werden.
Als ich sah, dass die Arbeiten zügig vorangingen, kehrte ich zu Kamose zurück. »Wie willst du Nefermaat die Bauplanänderung erklären, Kamose?«
»Wie wäre es mit der Wahrheit? Wir müssen Maat sagen und tun.«
»Die Maat hat in diesem Fall nichts mit der Wahrheit zu tun, Kamose. Die Wahrheit zerstört Pyramiden und Karrieren. Die Maat hat immer die gute Absicht und wirkt deshalb positiv.«
»Was schlägst du vor, Nefrit?«
»Du gehst mit den Plänen für die erweiterte Basis zu Nefermaat und erklärst ihm, dass die Gefahr bestehen könnte, dass die Pyramide schwere Schäden erleidet, wenn sie nicht abgestützt wird.«
»Aber sie hat doch schon Risse! Sie ist so empfindlich wie ein Hefeteig, der bei jedem Luftzug in sich zusammenfällt. Ich weiß nicht einmal, was geschieht, wenn wir die Baurampe abreißen. Gestern gab ich den Befehl, die
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