Die Herrin der Pyramiden
Hauptmann.«
»Das sehe ich, Prinzessin. Lass ihn!«
Ich ging hinüber zu Seneferu, riss den Saum meines Kleides ab, um damit seine blutende Schulter zu verbinden. Er nahm mich erst wahr, als ich ihn berührte. »Ihr blutet, Majestät.«
»Das ist nicht schlimm«, sagte er, während er meine Hand nahm.
»Es blutet aber stark, Majestät. Die Wunde muss …«
Seneferu zog mich zu sich heran, bis sich mein und sein Körper berührten. Dann umschlang er mich mit beiden Armen und presste mich fest an sich.
Dann flüsterte er mir ins Ohr: »Du musst stark sein, Nefrit.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, denn ich wusste nicht, warum er das sagte.
»Du musst stark sein! Gib niemals deinen Widerstand gegen das Schicksal auf, Nefrit. Und wenn es sich mit Gewalt gegen dich wendet, bleibe stark und widerstehe jeder Versuchung, schwach sein zu dürfen. Du musst mir etwas versprechen!«
»Was, Majestät?«
»Du darfst nicht weinen. Das würde ich nicht ertragen«, flüsterte er. Niemand konnte uns hören. Er ließ mich nicht los. Dann küsste er mich auf die Wange. »Sarenput ist tot.«
Ich lag auf meinem Bett und starrte an die Decke. Ich hatte Seneferu versprochen, nicht zu weinen, und ich hielt mein Versprechen. Aber der Schmerz war unerträglich. Wie sehr man einen Menschen liebt, wird einem erst klar, wenn er nicht mehr da ist und eine Leere im Herzen hinterlassen hat.
Merit war bei mir und hielt meine Hand. Seit Stunden schwieg sie, um meine Gedanken nicht zu stören. Sie war selbst völlig verstört über den Verlust ihrer Schwester Henutsen.
Irgendwann in dieser endlosen Nacht öffnete sich die Tür meiner Kabine, und Seneferu betrat den Raum. »Lass uns allein, Merit.«
Merit ließ meine Hand los.
Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, nahm er auf dem Rand meines Bettes Platz. »Hast du dein Versprechen gehalten?«
»Ja, Majestät. Ich habe nicht um Sarenput geweint.«
Er ergriff meine Hand und führte sie an die Lippen. »Ich habe geweint, Nefrit. Sarenput war wie ein Sohn für mich. Er war einer der wenigen, denen ich vertrauen konnte. Er war einer der wenigen, die mir nachfolgen konnten. Ich habe geweint.«
Zärtlich zog ich seine Hand an meine Lippen.
Er legte sich neben mich und nahm mich in seine Arme. Ich ließ es geschehen. Jeder von uns fand Trost beim anderen, und gemeinsam schliefen wir so nebeneinander, bis der Morgen graute.
Als ich erwachte, war er verschwunden. Ich warf mir ein dünnes Gewand über und suchte ihn. Ich fand ihn auf dem Oberdeck. Er saß in Schreiberhaltung mit einem Schreibbrett auf den Knien. Wortlos setzte ich mich neben ihn.
Er sah mich nicht an und vertiefte sich in seine Arbeit.
Ich wünschte mir ebenfalls Arbeit, in der ich mich ertränken konnte. Die Pyramide für Sarenput würde nun nicht mehr gebaut werden.
»Warum weinen wir, wenn wir einen Menschen verloren haben?«, fragte ich, und er sah auf. »Darüber, dass ein Mensch das Leben verloren hat, an dem er hing, oder darüber, dass wir mit diesem Verlust weiterleben müssen? Ist es nicht letztlich das Mitleid mit uns selbst, das uns trauern lässt? Sarenput wird im Jenseits weiterleben.«
Während der Rückreise nach Mempi saß Seneferu am Heck der Sonnenbarke und starrte gedankenverloren, ja: traurig, in die Wellen.
Was mochte in ihm vorgehen? Aserkaf, den er als seinen Nachfolger ausersehen hatte, war im Sinai gefallen. Rahotep, mit dem er sich zerstritten hatte, war nicht in der Lage, die Dynastie fortzusetzen. Khufu, den er zugunsten Sarenputs von der Nachfolge ausgeschlossen hatte, sprach kein Wort mehr mit seinem Vater. Ramesse hatte wie sein Vater Amenemhet versucht, die Macht an sich zu reißen und den König zu töten. Hesire hatte keine Ambitionen auf den Thron. Wer sollte nach Seneferu herrschen? Fürst Maatkare? Der Priester Merire? General Neferatum? General Djedkare? Keiner seiner Söhne?
Die Verurteilung von Ramesse und seinen Komplizen fand innerhalb von zwei Wochen nach unserer Rückkehr nach Mempi statt.
Seneferu selbst führte die Verhandlung über Ramesse in der Großen Halle des Palastes. Khufu übernahm die halbherzige Verteidigung des Angeklagten, Rahotep die Verteidigung des Fürsten von Amurru, dessen Mittäterschaft im Prozess bewiesen werden konnte. Fürst Adonija war in Mempi gefangen genommen worden. Er hatte die Rückreise nach Amurru noch nicht angetreten, weil er auf das Ergebnis des Attentates und der Machtübernahme durch Ramesse
Weitere Kostenlose Bücher