Die Herrin der Pyramiden
gegen die untersten Verkleidungsplatten der Pyramide. Feiner Sand streifte meine Hände. Sand, der von oben herunterrieselte.
Hatte es in den letzten Tagen einen Sandsturm gegeben, der den Flugsand in die Ritzen des Mauerwerkes getrieben hatte? Meine Hand fing etwas von dem Sand auf, der mir zu grobkörnig erschien, als dass er aus der Wüste herangeweht worden sein konnte. Es waren Mörtelreste, zerbröckelte, zermahlene Mörtelreste, die von oben herabrieselten.
Nachdenklich kehrte ich auf die Sonnenbarke zurück.
Am nächsten Morgen sollte die feierliche Zeremonie stattfinden, in der der Spitzstein auf die Pyramide gezogen und verankert wurde. Die königliche Familie und die Würdenträger des Hofes hatten auf einer Holztribüne Platz genommen.
Der vergoldete Spitzstein von der Höhe eines Mannes wurde mit Seilen und Winden bis ganz nach oben gezogen. Der Stein glitt auf einer Art Schlitten auf der glatt polierten steinernen Oberfläche der Pyramide hinauf, immer höher. Ganz oben konnte ich fünf oder sechs Arbeiter erkennen, die den Stein in Empfang nahmen und in seine Position setzten. Das Gold funkelte im hellen Mittagslicht.
Welch ein Anblick!, dachte ich stolz. Eine vollendete Pyramide! Endlich!
Ich hatte Kamose nur kurz gesprochen, bevor er zur Spitze der Pyramide hinaufgeklettert war, um die Arbeiten dort zu beaufsichtigen. Er war unruhig gewesen. Seine Arbeit war beendet. Eine neue Baustelle war ihm noch nicht zugeteilt worden. Wir hatten vereinbart, dass wir uns später sehen würden.
Ich stand neben Kanefer und blickte hinauf zur Pyramidenspitze, wo Kamose angeseilt den Spitzstein dirigierte, den mehrere Arbeiter in die endgültige Position wuchteten.
Als der Schlussstein verankert war, seilten sich die Arbeiter zusammen mit Kamose ab, mehr rutschend als kletternd auf dem Weg nach unten.
Das Schicksal holt den Menschen immer im Augenblick seines größten Triumphes ein.
Die rutschende Bewegung der Männer brachte die Oberfläche der polierten Steinplatten in Bewegung. Der Mörtel, den ich am vorigen Abend bemerkt hatte, begann stetiger zu rieseln. Ich öffnete den Mund zu einer Warnung, aber die Arbeiter würden mich nicht hören können.
Die Katastrophe begann: Erst lockerte sich eine Steinplatte ganz oben, die eine weitere mit sich riss, dann rutschten beide mit hoher Geschwindigkeit über die steile Flanke in Richtung Erde. Weitere folgten, dann immer mehr. Eine der Platten riss einen Arbeiter mit sich, der schreiend in die Tiefe stürzte.
Die Würdenträger sprangen auf und riefen wild durcheinander. Mehrere Arbeiter rannten zu der Stelle, wo der Unglückliche aufgeschlagen war, doch er war schon tot.
Entsetzt starrte ich nach oben: An der Pyramidenflanke bildete sich ein breiter Spalt von Armeslänge. Eine ganze Reihe von Steinplatten senkte sich und floss wie eine Welle über die darunter liegenden Steine. Die gesamte Außenfassade der Pyramide fiel mit einem ohrenbetäubenden Getöse in sich zusammen und hinterließ Wolken, die bis in den Himmel reichten.
Die Arbeiter am Fuß der Pyramide und diejenigen, die noch beim Abstieg waren, starben sofort. Viele der Würdenträger in meiner Nähe wurden von herumfliegenden Gesteinssplittern getroffen und schwer verletzt. Einige waren sofort tot.
Wie durch ein Wunder hatte mich die Pyramide verschont!
Unbeweglich und mit versteinertem Gesicht stand Seneferu neben mir.
Als sich die Staubwolken so weit gelegt hatten, dass wir etwas erkennen konnten, machten wir uns auf die Suche nach Überlebenden. Seneferu selbst leitete die Suche nach Verschütteten.
Rahotep und Kanefer, Hesire und Maatkare durchwühlten die Schuttmassen nach Überlebenden. Seneferu befahl den Würdenträgern mitzuhelfen und stieg dann den Schutthaufen hinauf, um weiter oben nach Arbeitern zu suchen.
Von der Pyramide war nur der Kernturm stehen geblieben, alle Stufen der ursprünglichen Pyramide des Huni waren durch die Gewalt der wegrutschenden Steinquader mitgerissen worden.
Ich kletterte Seneferu hinterher und rief ihm nach: »Geht nicht dort hinauf, Majestät. Es könnten Steine nachrutschen.«
Er blieb stehen. »Es gibt dort oben nicht mehr viel, was noch herunterfallen könnte, Nefrit.«
»Nein, es ist nicht viel übrig geblieben.«
»Kamose war dort oben, nicht wahr?«
»Ja, Majestät.«
»Es tut mir Leid.«
Es wurden nur zwei Arbeiter geborgen, der eine hatte beide Beine durch Quetschungen verloren, der andere glücklicherweise nur ein paar Rippen
Weitere Kostenlose Bücher