Die Herrin der Pyramiden
stand hilflos neben mir und sah auf das Kind herab. Kanefer hielt sich etwas abseits.
Mit zitternden Fingern wickelte ich meinen Sohn aus dem Leinen meines Kleides und zeigte ihn Seneferu. »Ich habe ihn Tutmosis genannt.« Ich reichte ihn seinem Vater.
»Tutmosis?«, fragte Seneferu überrascht. »Warum hast du ihn so genannt?«
»Er erinnert mich an meinen Vater.«
Seneferu hielt seinen Sohn Tutmosis auf dem Arm, sah ihm in das Gesicht und ergriff eine der winzigen Hände. Rahotep stand neben seinem Vater und betrachtete das Kind, das nun das seine sein sollte.
Kanefer war völlig verdutzt und blickte von einem zum anderen. Er begriff die Situation noch nicht vollständig.
Die Kulthandlungen an der Pyramide wurden aufgenommen, während Sethi mich in die Residenz zurückbrachte. Kanefer hatte aus dem Palast eine Sänfte bringen lassen. Seneferu, Rahotep und Kanefer waren dann zu den Würdenträgern zurückgekehrt, um die Pyramide zu weihen und mit den Zeremonien zu beginnen.
Rahotep, der an den Ereignissen nicht die geringste Schuld trug, war der Held des Tages. Nach etwas über einem halben Jahr seiner zweiten Ehe mit mir war er endlich Vater geworden!
Abends, während ich mit Tutmosis im Arm schlief, fand ein Empfang des Thronfolgers in der Halle des Horus-Thrones statt. Er feierte den Sohn, der nicht sein eigener war. Sein Vater, der Vater seines Sohnes, saß neben ihm.
9
Ich hatte fest geschlafen, als mich ein Geräusch an der Tür aufschrecken ließ. Tutmosis hatte seine kleinen Hände in das Leinen meines Bettlakens gekrallt, sodass ich mich nicht aufsetzen konnte, ohne ihn zu wecken.
Im Schein einer Öllampe erkannte ich Kanefer, der schwankend am Fußende meines Bettes stand. »Bist du wach, Nefrit?«
»Du bist betrunken, Kanefer!«
»Nicht mehr als dein Gemahl: Rahotep freut sich sehr über die Geburt seines Sohnes! Ich habe festgestellt, dass Dattelschnaps beim Denken hilft. Besonders, wenn es sich um seltsame Rätsel handelt, die ich lösen muss.«
»Welche Rätsel musst du lösen, Kanefer?«
»Wer der Vater dieses Kindes ist ...« Er ließ sich auf den Rand meines Bettes fallen. »Ist Khufu dein Geliebter? Ist das Kind mein Neffe?«
»Kanefer, du solltest schlafen gehen!«
»Tutmosis ist mein Bruder, nicht wahr?«
Mittags erschien Kanefer in meinem Garten, als ich gerade Tutmosis stillte. Weil ich fünf Wochen zu früh niedergekommen war, hatte ich mich noch nicht um eine Amme kümmern können.
Er stand vor meiner Liege im Schatten eines Feigenbaumes und starrte mich an. »Ich kann später wiederkommen, wenn es jetzt gerade nicht ...«
Er wandte sich schon ab, als ich ihn zurückrief.
Kanefer setzte sich auf den Stuhl neben meiner Liege und kniff die Augen zusammen. Das Licht blendete ihn.
»Ich komme gerade von meinem Vater. Er war wütend darüber, dass ich gestern in deinem Schlafzimmer war.«
»Du warst in meinem Schlafzimmer?«, fragte ich mit einem erstaunten Lächeln.
»Ich war wohl ziemlich betrunken«, sagte er entschuldigend. »Kannst du dich daran erinnern, dass ich bei dir war?«
»Nein, Kanefer.«
»Ich auch nicht, Nefrit. Kannst du dich daran erinnern, dass wir uns über völlig absurde Affären unterhalten haben?«
»Nein, Kanefer«, lächelte ich.
»Ich auch nicht. Dann werde ich mir unsere nächtliche Unterhaltung wohl nur eingebildet haben.«
Tutmosis hatte die Augen geöffnet und sah zu mir auf, bevor er erneut zu trinken begann.
»Was hat er dir gesagt?«, fragte ich leise.
»Mein Vater hat mir gedroht, Nefrit. Wenn ich auch nur im Schlaf über eure Affäre spreche, wird er mich meines Amtes als Wesir entheben und mich zum Fürsten von Jebu machen. Jebu liegt am Ende der Welt.«
»Ich weiß, wo Jebu liegt.«
»Und bevor er mich hinauswarf, hat er mir eine seltsame Frage gestellt: Ob ich wüsste, wer Tutmosis war.«
In den ersten Tagen nach Tutmosis’ Geburt kümmerte ich mich weder um die Baustellen noch um meine Arbeit im Ministerium. Ich verbrachte viel Zeit mit meinem Sohn. Ich saß an seinem Bett und sah ihm zu, wie er schlief, wie er die Hände bewegte, mit den Beinen strampelte. Seneferu war mehrmals in meiner Wohnung erschienen, um nach mir und unserem Sohn zu sehen.
»Du bist öfter hier als Rahotep!«, warnte ich ihn bei einem seiner Besuche.
»Ich habe keinen meiner Söhne aufwachsen sehen, Nefrit. Ich genieße jeden Augenblick mit dem kleinen General.«
Ich sah ihn erstaunt an. Was wusste er?
»Er schreit
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